Bad Moon Rising
aufmachte, was kam.
»Das ist schon so eine Sache«, sagte er und unterbrach sich.
Hollywood wollte nicht aufgeben. Im Angebot war eine Szene, in der die Frau den Mann mütterlich in den Schoß nimmt und sich stumm seine Horrorstory anhört, um ihm hinterher zu sagen, alles sei gut. Ich fand, solche Szenen kränkelten immer ästhetisch. Letztlich fand ich den Mann nach seiner Beichte dann weniger sympathisch. Ich war kurz davor zu sagen: »Mach dir keine Mühe. Was immer es auch ist, mir ist das scheißegal.«
»Das ist schon so eine Sache«, wiederholte Walker, »dass so etwas für dich nur unbedeutend sein kann.«
Damit meinte er das, was ihm zugestoßen war. Das, worum er sich geschmiedet hatte.
»Gib mir doch einfach die Fakten«, sagte ich.
Pause. Wir beide wurden uns kurzzeitig des traurigen Kerns des Hotels bewusst, stets kamen alle nur durch, stets gingen alle wieder. Dann wich ihm die Spannung aus den Schultern, fiel regelrecht ab von ihm, als sei sie durch eine Falltür verschwunden.
»Als ich sieben war, habe ich meinen Vater erschossen«, erklärte er. »Er war Polizist. Ich habe ihn mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen. Er schmetterte das Gesicht meiner Mutter in den Fernseher. So weit die Fakten.«
Wenn Sie mich gefragt hätten, womit ich gerechnet hatte, dann hätte ich das wohl nicht präzise vorhersagen können, aber jedes Wort und jedes Bild hatte die Qualität eines Traumes, der mir gerade wieder einfiel, lebhaft und unausweichlich: der kleine Junge, der sich mühte, die Waffe zu heben; der niedrige Raum; die einsamen Knie der Frau und der nach unten gezogene Mund des Mannes, wie bei der Maske der Tragödie, wie bei Robert De Niro, denn so stellte ich mir den Dad vor. Ich konnte den Augenblick sehen, der den Jungen festnagelte wie einen Schmetterling. Ich konnte den Attentäter sehen und das Lächeln, die Leichtigkeit, den Sex und die Häutungen, wie einen Zeitraffer von etwas Wachsendem. Es lag eine gewisse Abgekämpftheit in der Fähigkeit, das zu sehen, ein Luftverlust, der mit dem Verständnis einhergeht. ›Alle Einsicht macht uns traurig‹, dachte ich. ›Sie erinnert uns an die Perfektion, die wir früher für unseren Urzustand gehalten haben.‹
»Wolltest du ihn töten?« fragte ich.
»Ich weiß nicht. Ich wollte ihn aufhalten. Jedenfalls ist er gestorben. Meine Mutter wählte noch den Notruf, aber bis die Sanitäter da waren, war er schon tot. Ich hatte ihn ins Herz getroffen, wie sich herausstellte.«
»Und was ist aus deiner Mutter geworden?«
»Die ist aus der Bahn geraten. Zwei Jahre lang sind wir von einem Ort zum nächsten gezogen. Ich hatte gedacht, sie würde wieder auf die Beine kommen, wenn er weg sei, aber das stimmte nicht. Sie kam nie wieder auf die Beine. Drei Wochen vor meinem zehnten Geburtstag ist sie an einer Überdosis gestorben.«
Die darauffolgende Geschichte konnte ich mir ausmalen. Kinderheime. Pflegeeltern. Staatliche Einrichtungen. Zu viele Erfahrungen, zu großes Ausgesetztsein, all die falschen Formen. Zuerst fühlte ich gar nichts. Als ich dann daran dachte, wie er »Immer mit der Ruhe, Tiger … immer mit der Ruhe« gesagt hatte, und welche Erleichterung es für mich gewesen war, einen Augenblick lang zu lachen, tat er mir leid. Fast augenblicklich und scheinbar unwillkürlich riss ich mich davon los.
»Für dich ist das unbedeutend«, sagte er. »Wie auch anders.«
»Unbedeutend« war nicht das richtige Wort, aber ich wusste, was er meinte. Er war es gewohnt, das größte Ungeheuer im Raum zu sein. Nun war er es nicht mehr. Erleichterung und Verlust zugleich. In gewisser Hinsicht nahm er mir das übel. Die Deutlichkeit all dessen machte mich müde. Zu versuchen, darauf etwas zu sagen, war wie der Versuch, aus einer Kammer mit vielen offenen Türen fliehen zu wollen, die nach und nach zuschlugen, wenn ich an sie herantrat.
»Du weißt ja, wie das bei mir ist«, sagte ich schließlich. Das kam selbst für mich überraschend: Der Ausweg bestand einfach darin, ganz neutral die Wahrheit zu sagen. Er wusste, wie das bei mir war. Ich, die Frau, deren bisheriger Lebenshöhepunkt darin bestanden hatte, sich von ihrem Werwolfliebhaber vögeln zu lassen, während sie die Schnauze tief in den Eingeweiden ihres Opfers stecken hatte, und der Tiefpunkt darin, unbeteiligt zugesehen zu haben, wie Fremde ihren Sohn entführten. Die Frau mit einem guten Dutzend Morden zu ihren Lasten und den Geistern, die in ihrem Blut jammerten. ›Du hast deinem Dad ins
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