Bad Moon Rising
nicht kommunizieren können.‹
Walkers Handy klingelte. Hoyle, sein WOKOP-Insider, mit dem Neuesten. Der versuchte Anschlag auf uns im Parkhaus in Hammersmith ging auf Rechnung von ein paar schießwütigen Kerlen aus der spanischen Abteilung der Organisation, die – und das musste man sich mal vorstellen – auf Urlaub waren. Murdoch hatte eine internationale Kernschmelze riskiert, als er sie nach Bekanntwerden halb zu Tode prügelte. Der tote Vampir war definitiv einer der Priester, höchstwahrscheinlich der sechshundert Jahre alte Raphael Cavalcanti, der erst vor einer Woche in London gesichtet worden war, aber solange die verbliebenen (bekannten) Priester nicht abgehakt waren, konnte man sich nicht sicher sein. Noch immer keine Neuigkeiten von Jacqueline und den Schülern. Also auch keine Neuigkeiten von Lorcan. Was mich auf meine trüben Ausmaße schrumpfen ließ.
Walker spürte die Veränderung. Er fragte deutlich nicht nach, was das Problem sei. Einerseits war ich froh darüber, andererseits hoffte ich darauf. Ich hatte niemandem, nicht mal Cloquet, die schmutzige Wahrheit der Entführung gebeichtet: Mein Herz war grotesk neutral geblieben, obwohl ich ihn doch warm und feucht von der Geburt in meinen Armen gehalten hatte. ›Man kann nicht leben, wenn man nicht akzeptieren kann, was man ist‹, hatte in Jakes letztem Tagebuch gestanden, ›und man kann nicht akzeptieren, was man ist, wenn man nicht sagen kann, was man tut. Die Kraft der Namensgebung, so alt wie Adam.‹
Wenn ich zu lange darüber nachdachte, würde der Augenblick ungenutzt verstreichen.
»Da ist etwas, dass du über mich wissen solltest«, sagte ich. »Etwas anderes, meine ich.«
»Was denn?«
»Ich bin nicht vollkommen.«
»Nicht vollkommen?«
»Ja.«
Darauf erwiderte Walker nichts. Zoë wimmerte kurz im Schlaf und verstummte wieder. Wir lagen noch immer auf der Decke auf dem Boden, auf dem Rücken, berührten uns nicht.
»Als mein Sohn geboren wurde«, sagte ich zur Zimmerdecke, »hatte ich keinerlei Gefühl für ihn. Wo Liebe hätte sein müssen, war nur ein leerer Fleck. Dann war er verschwunden.«
Walker sagte eine Weile nichts darauf. Gott sei Dank versuchte er auch nicht, meine Hand zu nehmen oder mich zu umarmen.
»Eine Lakune«, erklärte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Eine Lakune. Du kennst doch das Wort?«
Trotz allem eine leichte Verärgerung darüber, dass mir nicht sofort einfiel, was das bedeutete. Dann kam ich drauf. Eine Lakune ist eine Lücke, eine Leerstelle, ein blinder Fleck. In Manuskripten ist es ein fehlendes Wort oder ein Textabschnitt.
»Ja«, erklärte ich. »Ich kenne das Wort.«
Wieder verstummte er. Dann sagte er: »Es gibt keinen Trost dafür.« Keine Frage. Eine Diagnose.
»Nein, es gibt keinen Trost«, pflichtete ich ihm bei.
»Obwohl du weißt, dass das nichts zu bedeuten hat.«
»Wirklich nicht?«
»Es war einfach nur Pech, dass sie ihn in einer Lakune geholt haben. Sechzig Sekunden später wäre die Liebe wohl eingeschossen. Für die Prinzessin ist sie ja auch da.«
Für die Prinzessin ist sie auch da.
Oder? Die subtilsten Versuchungen des Teufels sind jene, denen man nachgibt, ohne es überhaupt zu merken. Bestimmte Bilder zogen vor meinem geistigen Auge vorbei, auch wenn ich zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme die Augen vor ihnen verschlossen hatte: Ich küsse ihren Kopf, rieche an der Kopfhaut, spreche mit ihr, nenne sie Süße oder Fräulein oder Schätzchen, alles Namen, die meine Mutter mir gegeben hatte. All das hatte ich nebenbei getan, vor meinem verstocken Pharaonenherz geheim gehalten, hatte dabei meine Tochter nicht wirklich angeschaut, die wie eine kleine Mörderin war und, wenn ich sie anschaute, all meine verborgene Liebe mit all meinem offenkundigen Versagen beantwortete. In ihren Augen standen all die Rechte geschrieben, derer ich verlustig gegangen war. Sie war wie Gott: Sie sagte nichts, dachte über alles nach, was ich getan hatte, was ich nicht getan hatte, was ich war und was ich nicht war. Kam ich über den träumerischen Rand des Redens und Küssens und Wegschauens zu ihr, kam ich ehrlich und ganz zu ihr, konnte sie mich so ansehen, dass meine Liebe sich wie etwas Obszönes anfühlte, Gier, Laster, und ich spürte, wie ich mich entfernte, ausdünnte, zu nichts wurde. Die Liebe zog mich zu ihr, und von ihr angezogen zu werden, enthüllte nur das Zuspätkommen dieser Liebe.
»Nein,«, widersprach ich, »keine Lakune. Ich fühlte nichts für ihn, weil ich dachte,
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