Bad Moon Rising
immer er sie zu versorgen hatte, und ein Gefühl großer Zärtlichkeit für ihn überkam mich.
»Komm her«, sagte ich. Ich saß auf einem mit pinkfarbenem Samt bezogenen Hocker vor dem Toilettentisch. Er durchquerte das Zimmer, kniete sich ganz natürlich hin und legte seinen Kopf auf meine Knie. Ich fuhr mit den Fingern durch seine Haare und spürte durch das Nachgeben seiner Muskeln, wie sehr ihm körperlicher Kontakt fehlte. Ein Schmerz umfing seinen Körper. Ungeliebt, ungetröstet, hatte die Haut ein falsches Mikroklima entwickelt, das sie noch ungeliebter, noch untröstlicher machte. Ich stellte mir vor, eines Tages wäre die Zeit gekommen, an der ich, mit dem wiedergefundenen Sohn und Gott in seinem Himmel und alles Unrecht der Welt getilgt, Cloquet auffordern konnte, Trost in den Armen einer Frau zu finden, ganz gleich, ob seine Libido noch lebte oder nicht.
»Du bist erschöpft«, stellte ich fest. »Ist dir das klar?«
Er antwortete nicht. Der Sanitäter, den Walker geholt hatte, um Cloquets Schulter zu begutachten, hatte erklärt, sie sei infektionsfrei und heile ab, aber sie machte ihm noch sichtlich zu schaffen, war eine Macht, die ihn alle Kraft kostete und ihn tollpatschig werden ließ.
»Ich gehe mit dem Baby spazieren«, erklärte ich. »Warum machst du nicht eine Pause?«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Versuch es. Trink einen Brandy, schau dir einen Film an, zieh die Schuhe aus und leg dich aufs Bett. Mach das. Nur etwas ausruhen.« Ich sprach ruhig, fuhr mit den Fingern durch seine Haare, dachte an die Narbe an seinem Fuß, wo seine Mutter ihn mit dem Schürhaken verbrannt hatte. Wieder spürte ich die unverantwortliche Natur unseres Verhältnisses. Und auch den obskuren Anspruch. Wolf weiß um sein Anrecht und wird ihn durchsetzen. »Hör mal«, sagte ich, »ich weiß, du willst mich beschützen. Glaubst du, ich vertraue dir nicht? Du bist der Einzige, dem ich vertraue. Weißt du das denn nicht?«
Er konnte nicht antworten. Zärtlichkeit, die so lange in seinem Leben gefehlt hatte, verwirrte ihn. Wenn sie jetzt auftauchte, war sie wie die Rückkehr eines bezaubernden, unzuverlässigen Elternteils, der ihn schon zigmal zuvor verlassen hatte. Er wusste, es würde nicht lange gutgehen.
Das tat es auch nicht. Mit sanfter Gewalt in Knie und Händen ließ ich ihn wissen, dass es an der Zeit für ihn war, aufzustehen. Seine Schulter tat ihm dabei weh.
»Wie lange bist du weg?«, fragte er leise.
»Ich weiß nicht. Nur ein paar Stunden. Ich rufe an, wenn es länger dauert.«
Ich kleidete Zoë an, setzte ihr ein Mützchen auf und zog ihr Fäustlinge an, stopfte ein paar Windeln in die Tasche ihrer Babytrage und rückte sie an ihrem Platz an meinen Brüsten zurecht. »So muss sich Dolly Parton die ganze Zeit fühlen«, witzelte ich und streckte meine Wirbelsäule gegen das ganze Gewicht. »Wenn ich dieses Geschöpf weiter so herumschleppe, ende ich noch als Quasimodo.«
26
Gott allein weiß, was ich mir davon erhoffte. Wohl, damit das, was mich da verfolgte, was immer es auch war, so sehr provoziert wurde, dass es mit all dem Herumgeschleiche aufhörte und direkt zu mir kam und tat, was immer es vorhatte. Nicht, dass ich mir sicher war, verfolgt zu werden. Das Gefühl ähnelte eher jenem, das ich kurz vor der Verwandlung hatte, der Ruf der Wildnis, der von unschuldig zu verschlagen wechselte, von vulgär zu rasend; ich brauchte das Mondlicht und den Boden unter meinen Füßen und Luft, die mir über die Schnauze fuhr, und den plötzlich aufwallenden Gestank eines Opfers …
Was immer ich mir erhofft hatte, es erfüllte sich nicht. Der Hyde Park war grün und feucht und voller roter und goldener Blätter, aber frei von übernatürlichen Signalen. Ich kaufte mir in der Serpentine Gallery eine heiße Schokolade und machte kehrt, Richtung Nordost zum Marble Arch. Zoë ruhte eng an mir, war ganz betäubt von dem leisen Tumult und den sich ständig verändernden Gerüchen der Welt. Die Versuchung war gerade keine Versuchung mehr, sondern eine zerbrechliche Revolte, eine einsame Rebellion gegen das verstockte Herz. Nein. Nein. Nein. Doch da war, ob ich wollte oder nicht, die tödliche Besonderheit meiner Tochter, die Einzigartigkeit, die nach der zu späten Liebe rief, welche abfallen musste, zu nichts zerfiel, dasselbe Nichts, das meine Mutter zwischen den Morphindosen sah, dasselbe Nichts, das da war, wo ich Jakes Geist haben wollte, dasselbe Nichts, das jeder ab und zu erhaschte und leugnete.
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