Bad Moon Rising
unter der Erde zu sein. Eine müde Neonröhre summte und ließ das Licht irritierend flackern.
›Geh davon aus, dass Walker tot ist.‹
Der Gedanke war wie eine Steinstele mit mir in der Zelle. Ich musste zugeben, dass er da war, aber das war schon alles. Der Gedanke war da, das war alles. Mehr musste ich nicht zugeben.
Eine Weile konnte ich nur zusammengerollt auf der Seite liegen und atmen, die Arme um mich geschlungen, erniedrigt. Das war wie zu der Zeit auf dem Boden der Schließfachkammer bei Coralton-Verne. Jedes Mal, wenn ich mir sagte: ›Gut, steh auf, du Dummchen‹, stellte ich fest, es ging nicht. Wenn mich dieser Gestank nicht so gequält hätte, wäre ich wohl wieder eingeschlafen.
Schließlich setzte ich mich langsam auf. Die Dehydrierung pochte mir im Kopf. Ungesäugte Milch stach mir in die Brüste. Blockierte Milchbrustgänge, Abszesse, Krebs . Aber das hatte jetzt keinerlei Bedeutung. Mein Hals war an der Stelle, wo die Nadel getroffen hatte, ganz taub. Ich kroch mit Muskeln, die sich anfühlten, als würden sie hörbar reißen, zur Wasserflasche, stellte fest, dass ich gerade noch die Kraft hatte, die Kappe abzuschrauben, dann trank ich und dachte die ganze Zeit über, trink nicht so viel, du weißt nicht, wann du wieder Wasser kriegst, war aber zu durstig, auf den eigenen Rat zu hören. Als ich die Flasche absetzte, war sie halbleer.
Nach einer Reihe von wackligen Fehlversuchen kam ich auf die Füße. Ich ließ mein Blut durch die Gliedmaßen kreisen. Mein Rucksack war verschwunden. Ich trat an die Gitterstangen und sah hinaus.
Es gab sechs Zellen, je drei zu beiden Seiten eines kurzen Ganges, der am Ende mit einer Banksafetür verschlossen war. Kartenlesegerät als Zugang. Eine Reihe von Beobachtungskameras an der Decke des Gangs, eine auf jede Zelle gerichtet. Meine Zelle war die mittlere von dreien. Ich konnte nicht erkennen, ob die Zellen links und rechts von mir belegt waren, doch in der Zelle mir gegenüber lag ein spindeldürrer Junge von vielleicht elf, zwölf Jahren in fötaler Haltung auf dem Boden, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte mich an. Sein Gesicht sah aus wie ein Totenschädel, er hatte grüne Augen und zotteliges, weißblondes Haar. Er trug nur eine schmutzige weiße Trainingshose. Sein Blutkreislauf zeichnete sich unter der Haut ab. Er wirkte wie aus krakeliertem Porzellan.
Er war die Quelle des Gestanks.
»Hey«, sagte ich.
»Hey«, erwiderte er. Er war nass vor blassrosa Schweiß, der an manchen Stellen wie Gelee wirkte.
»Sind wir beiden hier unten allein?«
Er nickte.
»Wo sind wir?«
Er schluckte. Schloss die Augen. Das Schlucken schmerzte. Existieren schmerzte. »Weiß nicht«, antwortete er. Ein Akzent, den ich nicht genau verorten konnte. Oder ein durch viele Orte verzerrter Akzent.
»Wo warst du, als die dich geschnappt haben?«
»Schottland.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Einundzwanzig Tage.«
»Sind noch andere Vampire hier?«
Mit grotesk flatteriger Geschwindigkeit stützte er sich auf die Ellbogen und übergab sich schaudernd. Ein einzelner rosiger Faden Schleim, wie es aussah, hing ihm von der Unterlippe. Er spuckte ihn aus. Neben ihm auf den Boden war eine weitere Pfütze davon.
»Bin ich das?«, fragte ich.
Er konnte nicht antworten. Ich erkannte, dass er die Arme um sich geschlungen hatte, um Spasmen zu unterdrücken. Bei jedem Krampf verdunkelte sich sein Kapillarsystem und verblasste wieder. Ich dachte: ›Einundzwanzig Tage. Jake hat gesagt, Vampire müssten alle drei, vier Tage trinken.‹ Sie ließen ihn verhungern.
»Du bist … ein Werwolf?«
»Tut mir leid.«
»Man hat mir gesagt, Eure Art würde stinken. Ich meine –« Wieder überkam ihn ein Krampf. Er drückte die Knie fester an die Brust und biss die Zähne zusammen. Er hechelte. »Das klang vielleicht jetzt falsch.«
»Na ja, falls das ein Trost ist, du stinkst auch.«
Er lächelte nicht, aber sein Blick besagte, dass er es getan hätte, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. »Du musst nicht … nicht mit mir reden … wie mit einem Zehnjährigen«, sagte er zitternd.
»Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Der Ton. Ich bin siebzehn.«
Jetzt wo er es gesagt hatte, fiel mir auf, dass ich tatsächlich wie mit einem Kind gesprochen hatte. Alte Gewohnheit. Nach allem, was ich wusste, hätte er noch vor Moses geboren worden sein können.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Das war dumm von mir.« Nur mit Mühe konnte ich eine Bemerkung über
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