Bär, Otter und der Junge (German Edition)
zugewandt ist. Sie sieht mich an, und da liegt etwas in ihren Augen, etwas, das ich nicht richtig zuordnen kann. Ich überlege, ob es vielleicht Sorge oder Angst oder welches der vielen anderen Dinge es sein kann, wenn eine Bombe kurz vor dem Platzen steht. Ich kann noch immer nicht ernsthaft erkennen, was so schlimm sein soll. Ty ist in meinen Armen, atmend und in Sicherheit (wenn auch vor irgendetwas zu Tode erschreckt), unsere Wohnung ist nicht abgebrannt und Mrs. Paquinn ist nicht tot. Ich versuche erleichtert zu sein. Ich versuche es, bis ich Otter neben mir sprechen höre.
„Oh mein Gott“, murmelt er.
„Hallo, Bär“, sagt meine Mutter.
Ich glaube, ich muss akustische Halluzinationen haben, denn es kann nicht sie sein. Ich erlaube mir selbst, für den Bruchteil einer Sekunde, verwundert zu sein, dass ich nach all diesen Jahren ihre Stimme noch erkenne. Dann, als ich mich zur Couch drehe, glaube ich, ich müsste visuelle Halluzinationen haben, denn was ich sehe, kann auf keinen Fall da sein. Julie McKenna sitzt auf der Couch, ihr Rücken so steif wie der von Mrs. Paquinn. Ihr dunkles Haar ist jetzt kürzer und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. An den meisten würde das ein jugendliches Aussehen unterstreichen, aber was mich umhaut, als ich sie zum ersten Mal seit über drei Jahren seheist, wie alt sie aussieht. Die Krähenfüße um ihre Augen lassen ihr Gesicht brüchig und vernarbt wirken. Ihre Wangen sind aufgedunsen, und es sieht aus, als habe sie zugenommen. Das schäbige Kleid, das sie trägt, schreit nach einem Ausverkauf in einem Billigladen, ihre Schuhe wirken klobig und undefinierbar. Die Halskette, die sie trägt, glänzt zu sehr, um irgendetwas anderes zu sein als billiges Plastik. Sie sieht fertig aus, verwittert, als wäre nichts in ihrem Leben so gelaufen wie sie es wollte. Instinktiv drücke ich den Jungen fester an mich, versuche, ihn verschwinden zu lassen, so dass er niemals sehen muss, woher er kommt, nur wohin er gehen wird. Meine Augen verlassen niemals die meiner Mom, und mir graut es beinahe, als ich feststelle, dass sie das Einzige sind, das nicht verblasst ist, das Einzige an ihr, das noch gleich aussieht. Sie sehen vertraut aus, da sie das Braun meiner Augen haben, das Braun der Augen des Jungen.
Ich fühle eine beschützende Hand auf meiner Schulter. Ich reiße meinen Blick einen Moment von meiner Mom los und sehe Otter an. Sein Gesicht ist angespannt, seine Augen hart. Er starrt meine Mutter wütend an und tut nichts, um es zu verstecken. Er fühlt meine Augen auf sich, wendet sich mir zu und drückt wieder meine Schulter, während seine Blick von Wut zu derselben Aufmerksamkeit wechselt, die er Ty und mir stets entgegenbringt. Es ist beinahe genug, um die erstickende Angst zu verjagen. Beinahe. Sein Blick wird wieder kalt, als er zurück zu meiner Mom sieht. Sie sieht nervös zwischen uns hin und her und versucht es mit einem weiteren Lächeln, an dem sie aufs Übelste scheitert.
Mrs. Paquinn hustet hinter mir, und ich höre sie niesen, als sie sich aus ihrem Stuhl erhebt. „Bär, würdest du eine alte Lady wohl zur Tür bringen?“, fragt sie ruhig. Ich nicke, küsse den Jungen auf den Kopf und gebe ihn an Otter, dessen Arme bereits warten. Sobald der Junge in seinen Armen ist, rollt er sich an dessen Brust zusammen, und Otter beugt sich zu ihm hinunter und flüstert beruhigende Worte in sein Ohr. Seine Augen strafen seiner Worte Lügen, sie sind hart wie Stahl.
Mrs. Paquinn wartet an der Tür auf mich. Als ich zu ihr gehe, spricht sie zu Mom: „Es war... interessant sie wiederzusehen, Julie“, sagt sie mit tonloser Stimme. „Ich hoffe, sie wissen, dass Bär ein wirklich außergewöhnliches Kind großgezogen hat.“
Meine Mutter nickt, spricht jedoch nicht.
Ich folge Mrs. Paquinn zur Tür hinaus und schließe sie leise hinter mir. Sie dreht sich um und sieht mich an, als erwarte sie ein Bombardement von Fragen.
„Was verdammt noch mal tut sie hier?“, will ich wissen. „Wann ist sie aufgetaucht?“
Mrs. Paquinn erschauert und lehnt sich gegen die Tür. „Sie ist vor zwei Stunden angekommen“, antwortet sie mit bebender Stimme. „Es hat an der Tür geklopft, und Ty ist hingerannt, weil er dachte, es wären du und dieser Otter-Junge. Als er zurückkam, war er kalkweiß und sie folgte ihm, strahlend wie ein Atomkraftwerk. Zuerst hab ich sie nicht erkannt, aber dann hat sie ihren Mund aufgemacht und ich wusste sofort, wer sie war. Tyson und ich haben
Weitere Kostenlose Bücher