Bärenmädchen (German Edition)
reden. Sag einfach, was du möchtest, und ich gebe es dir.“
Anne schluckte. Sie suchte nach einem passenden Wort. Sie fand es nicht und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. So schnaubte sie nur, ganz sanft und bittend, so wie es auch Rockenbach mochte. Sieversen aber gefiel es nicht.
„Anne, du machst mir Angst“, sagte er. Ganz bestürzt sah er jetzt aus. Er erzählte von irgendeinem Effekt, nannte einen schrecklich komplizierten Begriff und dass sie in Gefahr sei. Aber sie hörte schon gar nicht mehr zu. Das war viel zu kompliziert. Sie war doch nur eine Stute.
Entschuldigend schob sie die Schultern hoch, schaute erst freundlich-abwehrend und dann immer mürrischer. Schließlich klemmte sie zornig ihre Unterlippe zwischen die Zähne, als er immer drängender von ihr verlangte zu reden. Sie wollte doch nicht. Es war nicht recht. Sie war eine Stute. Wenn Tiere reden könnten, dann könnte man mit ihnen im Fernsehen auftreten. Das hatte Rockenbach gesagt. Ach, wäre ihr Herr nur hier. Er würde diesen Unsinn sofort beenden. Jetzt wurde der alte Mann auch noch böse. Ängstlich duckte sie sich unter seinen wütenden Blicken und seiner scharfen Stimme. Sein Spazierstock fuchtelte hin und her, zischte um sie herum. Was schimpfte er da? Adrian Götz sei an allem schuld? Ein Volltrottel, ein rückgratloser Weichling sei er? Ein Lügner?
„Nein“, flüsterte sie. Möglich, dass sie vorhin Ähnliches gedacht hatte, aber von einem anderen mochte sie es auf keinen Fall hören.
„Nein“, hauchte sie noch einmal.
„Doch“, schrie er.
„Nein, nein.“
„Wo ist er denn jetzt, dein schneidiger Offizier? Der Herr Soldat hat Fahnenflucht begangen“, höhnte er. Wie gehässig seine Stimme klang.
„Nein, nein, nein.“ Sie schrie es über den See hinaus, wurde lauter und lauter: „Nein, niemals.“
Trotzig und zornig schaute sie ihn an. Jetzt lachte Sieversen sogar über sie.
„Du Klappergestell, du scheintotes Klappergestell, du hässliches, verwelktes scheintotes Klappergestell“, brach es aus ihr heraus. Dann schwieg sie verwirrt. Er war gar nicht böse. Er lachte auch nicht über sie. Er schien sich zu freuen.
„Schnell red‘ weiter, Mädchen“, forderte er.
Oh, da war ein Wort, das sie gerne sagen wollte. Aber es war so kurz und glatt. Wie ein silbrig-heller Fisch drohte es ihr immer wieder zu entgleiten. Dann hatte sie es gepackt. Ängstlich schaute sie noch einmal auf das Halsband, das immer noch fern von ihr auf dem Tisch lag, dann schleuderte ihre Zunge das Wort heraus. „Ich“, brachte sie hervor.
„Ich, ich“, wiederholt sie probeweise.
„Ich bin Anne Ludwig“
„Ich rede.“
„Ich bin ein Mensch“
„Ich glaube ihnen nicht. Adrian liebt mich.“
Mit dringlichem Kopfnicken begleitete Sieversen jeden ihrer Sätze. Weit beugte er sich zu ihr herüber, als wollte er ihr jedes Wort höchstpersönlich aus ihrem Mund befördern. Aber das war gar nicht mehr nötig, denn die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus. Anne konnte gar nicht mehr aufhören zu reden. Manchmal lachte sie, dann wieder musste sie schluchzen. Sie erzählte von ihrer Nacht mit Adrian, vom darauffolgenden Tag, der so entsetzlich war, von der bizarren Welt, in die sie geraten war. Sie berichtete vom morgendlichen Ritual der Stuten, wenn sie sich so sehr wünschten, von Rockenbach erwählt zu werden, von den langen Stunden der Stille und Dunkelheit unter der grauen Kappe. Von Rockenbachs schrecklicher Peitsche und von Anatols schrägem Schwanz.
Ihre Gedanken purzelten übereinander und konnten gar nicht schnell genug ausgesprochen werden. Geriet sie doch einmal ins Stocken, schaute sie auf das Halsband, vergewisserte sich, dass es dort auf dem Tisch lag und nicht mehr an ihr befestigt war. Sie erzählte von Daschas Besuch und ihrem gemeinen Gerede über sich und Adrian. Dann berichtete sie von dem Abend, als es zur Prügelei gekommen war. Jetzt spuckte sie geradezu alles aus, was Dascha ihr angetan hatte. Es musste raus. Es verbrannte sie. Und schließlich hielt sie doch inne, denn jetzt musste sie es einfach wissen. Plötzlich war ihr Kopf wieder ganz leer. Alle Wörter hatten sich verflüchtigt. Keines wollte für eine Frage bereit stehen, auf welche die schrecklichste aller Antworten drohte.
„Adrian?“, fragte sie. „Stimmt es, was sie eben gesagt haben oder wollten sie mich nur zum Reden bringen?“
Sieversen schwieg. Voller Angst versuchte Anne, jede Regung in seinem Gesicht zu deuten. Warum guckte er
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