Bahnen ziehen (German Edition)
hinteren Oberschenkelmuskulatur am intensivsten ist, wenn ich das Gesicht in die glitzernde blaue Bank drücke.
Eines Abends läuft beim Zirkeltraining eine Mixkassette. Als das Lied »In the Air Tonight« beginnt, macht jemand das Licht aus. Wir halten alle inne, und nach und nach verebbt das Quietschen und Rasseln der Geräte. Keiner sagt etwas. Wir sitzen schweigend im Dunkeln und lauschen dem Lied. Ich sehe nur das rote Lämpchen des Kassettenrekorders und die reglosen Schatten der anderen Mädchen.
Es war zu der Zeit, als Miriams Vater starb. Eines Nachmittags war sie nicht zum Training gekommen. Nach dem Training versammelte uns Mitch am Beckenrand und sagte, dass Miriams Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen sei. Eine Woche lang kam Miriam nicht. Als sie wieder da war, sah sie müde undblass aus. Manchmal fing sie im Wasser zu weinen an und hielt sich am Beckenrand fest. Ihre Freundinnen ließen sie nicht allein. Ich war noch neu, stand keinem aus der Mannschaft nahe, aber Miriam war immer nett zu mir gewesen. Wir schwammen die gleichen Wettkämpfe, und ich war ein bisschen schneller als sie, was mir jetzt irgendwie leidtat.
Miriam ist an dem Abend mit uns im Kraftraum. Ich sehe sie unweit von mir, die Arme um die Knie geschlungen, die Knie an die Brust gedrückt. Als das Lied zu Ende ist, sagt niemand etwas, aber die Stimmung ist gedrückt. Das Licht geht wieder an, und wir beenden das Zirkeltraining rasch, duschen, ziehen uns an und gehen. Ich frage mich, ob das Lied Miriam etwas bedeutet hat. Meine Mutter holt mich ab.
»Müde?«
»Ja.« Auf dem Heimweg halte ich die Augen geschlossen.
Auf der Küchentheke steht ein zugedeckter Teller. Unter der Alufolie ein Schweinekotelett, grüne Bohnen und Kartoffelbrei. Daneben steht ein Schälchen Soße, mit Frischhaltefolie abgedeckt.
Ich lasse die Tasche im Flur fallen und hänge den Anorak über das Treppengeländer. Auf dem Esszimmertisch ist ein einzelner Platz gedeckt. Während meine Mutter die Soße aufwärmt, schenke ich mir ein Glas Milch ein und setze mich. Im dunklen Wohnzimmer hört mein Vater CBC Radio. Er hat sich mit seinen eins fünfundachtzig auf dem braunen Sofa ausgestreckt, ein Arm über den Augen. Wenn er Radio hört, knipst er jede Lampe aus und dreht die Lautstärke auf. Meine Mutter bringt mir die Soße an den Tisch, und ich lasse sie abkühlen,starre ins Leere, im Hintergrund die vertrauten Stimmen der Radiomoderatorinnen – Barbara Budd und Mary Lou Finlay –, während ich in kleinen Schlucken meine Milch trinke.
In der Küche höre ich meine Mutter. Der Kühlschrank klappt auf und zu, auf und zu. Ich höre, wie die Spülmaschine anläuft. Ich kaue auf dem Kotelett und schiebe mir Kartoffelbrei in den Mund. Ich frage mich, ob Derek in seinem Zimmer sitzt, und stelle ihn mir vor: Entweder er sitzt an seinem Schreibtisch und macht Hausaufgaben, oder er sitzt auf dem Bett, an die Wand gelehnt, die Beine lang ausgestreckt. So liest er. Oder er hat das offene Buch auf der Brust aufgestellt und liest durch die untere Hälfte seiner Brille. In letzter Zeit liest er Science Fiction und Fantasy, viel von Isaac Asimov und Larry Niven. Mir gefallen das Cover und der Titel seiner Taschenbuchausgabe von Die Zeitfalte . Ich esse den Teller leer, spüle ihn ab und gehe nach oben, wo meine Tasche inzwischen am Fußende des Betts steht. Die nassen Handtücher und Badeanzüge hängen im Bad. Ich gehe in Dereks Zimmer, wo er ziemlich genauso dasitzt, wie ich ihn mir vorgestellt habe – auf dem Bett an die Wand gelehnt –, und Science Fiction liest.
»Hallo.«
»Hallo.«
Er sieht nicht auf.
»Wie heißt das Lied von Phil Collins mit der Zeile: ›I can feel it coming in the air tonight, oh lord‹?«
»Woher soll ich das wissen?« Er sieht immer noch nicht auf. Dann seufzt er. »Ich hasse Phil Collins.«
Ich kratze an einem Aufkleber an seiner Kommode.
»Mhm.«
Derek ignoriert mich. Ich strecke der Kommode die Zunge raus, dann gehe ich wieder in mein Zimmer. In meinem Schulranzen warten Französisch-Hausaufgaben, und ich überlege kurz, ob ich sie machen soll, aber ich kann sie genauso gut in der chaotischen Fünfminutenpause vor der Stunde erledigen. Ich ziehe mich aus und schlüpfe in mein lila Snoopy-Nachthemd, dann gehe ich ins Bad und putze mir die Zähne.
D EREK
Als meine Neffen im Bett sind und Derek noch arbeitet, essen meine Schwägerin Kristin und ich ein paar von den Brownies, die wir gebacken haben, und spülen sie mit
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