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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leanne Shapton
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Rausch zu erzeugen. Es ging mehr um Aberglauben als um Ernährung, eine Mini-Fastenzeit vor dem Rennen. Noch heute bekomme ich Heißhunger auf Zucker, wenn mein Körper vor einer Herausforderung steht.
    Derek teilte mein Verlangen nicht; bei ihm konnte eine Schachtel Toffifee, die er im Februar zum Geburtstag bekam, bis Halloween vorhalten.
    Ich wische die Arbeitsplatte ab und räume die Zutaten weg. Durch die Augen eines Küchenräubers betrachtet ächzen meine Schränke unter ihrem Gewicht. Crackerschachteln, große Tüten mit Nüssen, eine Ritter Sport Knusperkeks, Maraschino-Kirschen, ein Glas Nutella, eine Schachtel Bio-Erdnussbutterkekse. Derek und ich hörten mit den nächtlichen Raubzügen auf, nachdem wir wieder in unser jeweiliges Zimmer zurückgezogen waren. Später fuhr er mit meinem Vater und dessen College-Studenten nach Deutschland und kam größer und cooler zurück.
    Als Derek den Führerschein macht, lässt er sich widerwillig überreden, es meiner Mutter abzunehmen, mich zum Morgentraining zu fahren. Er schlurft in die Küche, die Schlafanzughose unter der Jeans, greift nach dem Autoschlüssel. Während der Wagen rückwärts aus der Einfahrt rollt, legt er eine Kassette ein, in meiner Erinnerung ist es immer Billy Braggs Talking with the Taxman About Poetry . Im Wagen wird es warm, und mein Bruder dreht die Lautstärke auf.
    Die Fahrt fühlt sich an wie ein Film. Wir reden nicht; wir lauschen dem Text, der Gitarre – laut, durchdringend –, und sehen zu, wie ein paar der Wahrzeichen von Mississauga an uns vorbeiziehen. Ein gekappter Leuchtturm, die Maisstärkefabrik. Das Beerdigungsinstitut, wo wir einmal in den offenen Sarg unseres Nachbarn gestarrt haben, Port Credit Marina, PizzaPizza. Ich möchte gerne etwas als Freundin, als Gleichgestellte zu Derek sagen, das Gefühl auflösen, bloß ein Kind zu sein, das einen Fahrer braucht, aber mir fällt nichts ein. Seit er nicht mehr schwimmt, haben wir weniger gemeinsam. Ich habe seinetwegen mit dem Schwimmen angefangen, und als er aufhörte, fragte ich mich, ob er etwas wusste, das mir entgangen war. Ich betrachte die Kassettenhülle im Licht des Armaturenbretts und rieche am Booklet. Heidelbeere.
    Wir fahren in den Burger King Drive-Thru. Derek bestellt: Kaffee und ein Schinken-Käse-Croissant. Ich bestelle das einzige, was mir einfällt, heiße Schokolade, vergrößere die Alterslücke zwischen uns noch mehr.
    Die Straße wird hügeliger, als wir durch die wohlhabenden Viertel fahren. Porcupine Avenue, Tennyson Avenue. Hier wohnt ein begabter Schmetterlingschwimmer namens Doug, der einen ausgewachsenen blonden Pony hat und Buddhist werden wird, genau wie Duncan, den ich gut finde. In einem Jahr werde ich mir mit Duncan auf der Heimfahrt von Ottawa eine selige Stunde lang einen Kopfhörer teilen. Auch da werden wir Billy Bragg hören. Ich habe die Arme um seine Lehne gelegt, einen Arm auf seiner Schulter, und wenn der Kleinbus ruckelt, berühren meine Finger sein T-Shirt an der Brust. In drei Jahren wird er mich auf einem Billy-Bragg-Konzert küssen, und ab da lassen meine Gefühle für ihn nach.
    Ich suchte bei Derek immer nach Hinweisen, was alles möglich war, wie man Entscheidungen traf, was man mögen sollte und woran man es erkannte. Ich wusste, er wollte mich loswerden, und ich versuchte, Distanz zu halten, aber ich trug trotzdem die gleichen Converse Chucks wie er, die gleichen Jeans.Ich war eine androgyne kleinere Version von ihm, nur dass ich anfing, Schulterpolster zu mögen. Etwa zu dieser Zeit wurde bei The Bay Portrait Studio unser Familienporträt aufgenommen. Als wir die Bilder abholen kamen, zeigte der Verkäufer auf ein Foto von meinem Bruder und mir und sagte: »Hier ist ein schönes von den zwei Jungs.«
    Wir fädeln uns wieder in die Lakeshore Road ein. Derek nimmt zwei große Bissen von seinem Croissant, lässt mich beißen, dann isst er es mit vier weiteren Bissen auf. An einer roten Ampel kurbele ich das Fenster runter und kippe, um besser trinken zu können, ein paar Fingerbreit meiner kochendheißen Schokolade auf den Asphalt.
    Wir halten vor der Tür des Schwimmbads. Ich sehe ihn an.
    »Holst du mich ab? Oder Mom?«
    Derek zuckt mit den Schultern.
    »Ich hoffe, du.«
    Er verzieht das Gesicht. »Warum? Ich hau mich wieder hin.«
    Diesmal zucke ich mit den Schultern.

N ACHTKÜCHE
    Februar 1987. Der Wecker klingelt um 4.25 Uhr, und so sieht meine Routine aus: Vom Bett aus greife ich nach den zwei feuchten Badeanzügen,

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