Bahnen ziehen (German Edition)
Rotwein hinunter. Am Abend zuvor war ich auf einer Party, und während ich Kristin davon erzähle, fällt mir ein, dass ich auf dem Weg dorthin bei einem Schwimmwettkampf vorbeigeschaut habe.
Ich trage ein Kleid und hohe Absätze. Das hell erleuchtete Schwimmbad der University of Toronto liegt auf meinem Weg, und ich werfe einen Blick durch die ebenerdigen Fenster. Ein Schwimmwettkampf. Final. Ich gehe hinein. Shaggys Version von »Angel of the Morning« hallt durch das Gewölbe. Die ersten Schwimmer springen ins Wasser, um sich aufzuwärmen, wühlen die glatte Oberfläche mit stampfendem Schmetterlingsbeinschlag auf. Andere Schwimmer, die, um den Widerstand zu erhöhen, zwei Anzüge übereinander tragen, stehen am Beckenrand, wo der Trainer ihnen die Aufwärmübungen gibt. Auf der Galerie trinken Familien Kaffee und Cola und blättern durch das Programm. Die Luft ist warm und schwer und lässt die dunklen Scheiben beschlagen. Ich suche mir einen Platz und ziehe den Mantel aus.
Nach zwanzig Minuten Einschwimmen wird die Musik lauter. Im Wasser hüpfen Mannschaftsbadekappen auf und ab. Auf einer Bahn sind es grüne und ein paar gelbe, auf einer anderen sind alle weiß und rot. Zusammenstöße sind beim Einschwimmen unvermeidbar: Schwimmer aus gegnerischen Mannschaften müssen sich Bahnen teilen und lassen ihre Aggressionen durch ungeduldige Blicke raus, oder sie überholen einander mit schnellen, boshaften Wenden. Der Lärm wird lauter, und auf den nassen Fliesen schimmert frei gewordene, erwartungsvolle Energie. Auf den Außenbahnen werden Sprints geschwommen. Trainer – die hohlen Hände vor dem Mund – lassen ihre Schwimmer von den Blöcken starten, im Zehn-Sekunden-Abstand.
Ein langer Pfiff signalisiert das Ende der Einschwimmzeit, und die Oberfläche wird wieder spiegelglatt. Mein Handy klingelt in der Manteltasche. Es werden mehrere Läufe geschwommen; dann wird das Final der Frauen über 100 Meter Freistil angekündigt. Jede Schwimmerin wird namentlich vorgestellt, und auf Bahn vier erwähnt der Sprecher außerdem das Alter der Frau: fünfunddreißig. So alt wie ich. Ich spitze die Ohren, um den Namen zu verstehen, und erkenne ihn von 1992 wieder. Sie hat kurzes blondes Haar, schmale Hüften und den sehnigen Körperbau einer Langzeitsportlerin. Ich beobachte, wie sie sich die Badekappe aufsetzt, denke das Offensichtliche, stelle die offensichtlichen Vergleiche an. Die Frau sieht gut aus, schnell, sie ragt zwischen den anderen Schwimmerinnen hervor, die sie flankieren. Sie macht einen ernsthaften Eindruck. Sie erinnert mich an eine Schwimmerin, die 1992 mit uns trainiert hat. Kylie war damals Mitte dreißig und gehörte zu den Top-5 des Landes.
Kylie teilte sich bei Auswärtswettkämpfen das Zimmer manchmal mit einer Trainerin. Ich frage mich, wie es für sie war, mit uns unterwegs zu sein – wenn wir Pfannkuchen durchs Lokal warfen, während sie Tee trank. Junge Mädchen, die frech den Rotz aneinander abwischten und die ihr auf den Fersen waren. Es gab auch ältere Männer – begabte Schwimmer, die mit ihren Frauen und Kindern aus Osteuropa eingewandert waren und keinen Sinn für Blödsinn hatten.
Bei Fernsehübertragungen wird jede Frau über siebenundzwanzig großzügig »Veteranin« genannt. Während sie auf den Block zugeht, werden ihr Alter, ein paar Details aus ihrem Leben, eine kranke Mutter, der Aufschub des Jurastudiums an einer Top-Universität erwähnt – Erwachsenenopfer. Dann wird das Mädchen auf der nächsten Bahn aufgerufen. Das Mädchen, das ihr auf den Fersen ist, vor dem sie sich hüten muss.
Die ältere Frau gewinnt den Lauf und lächelt knapp und würdevoll. Sie streckt mit einer kleinen Bewegung die Faust in die Luft, aber die Geste scheint nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Ich sehe zu, wie sie sich aus dem Becken stemmt. Trotz der vielen Menschen am Beckenrand wirkt sie einsam. Ich ziehe mir den Mantel an und gehe hinaus in die Torontoer Nacht.
Am Morgen nach den Brownies wacht Derek früh mit seinen drei Jungs auf, und weil ich sie durch die Wand höre, wache ich auch auf. Ich liege da, entspannt, glücklich, höre zu, wie er mit seinen Söhnen spricht, und stelle mir eine andere Version meines Lebens vor; die, wenn ich in der Stadt geblieben wäre, bei meinem damaligen Freund und in einer von Torontosbaumbestandenen Straßen meinen eigenen Vorgarten abgesteckt hätte. Es ist ein schönes Leben. Dann knurrt mein Magen und erinnert mich daran, wie Derek und ich
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