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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leanne Shapton
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einen nächtlichen Raubzug in die Küche planten, in dem Jahr, als unser Haus renoviert wurde.
    Ich bin elf, Derek ist dreizehn, und wir teilen uns ein Zimmer, während Plastikplanen und verspachtelte Trockenbauplatten unserem Haus einen neuen Grundriss geben. Wir planen den Raubzug sorgfältig, kundschaften den Weg aus, merken uns die knarrenden Stufen und lassen das Schnappschloss der Schranktür offen. Wir testen die Batterien unserer Taschenlampen, die wir in unseren Schlafanzugtaschen dabeihaben werden.
    Derek stellt den Wecker seiner Taschenrechneruhr auf drei Uhr früh. Als er klingelt, murrt er ins Kissen, dass er zu müde ist. Mit weit aufgerissenen Augen bestehe ich darauf, dass wir uns an den Plan halten. Doch als wir in die Küche kommen, stellen wir fest, dass nicht viel zu plündern da ist. Der Hauptgewinn: eine Schachtel Müsliriegel. Ich nehme zwei, und Derek reißt leise zwei Bananen vom Büschel. Er streckt sich, angelt eine Tüte tuyo aus dem Oberschrank – getrockneter, gesalzener Fisch vom Filipino-Supermarkt – und hält sie grinsend in den Schein meiner Taschenlampe.
    In unserem Zimmer breiten wir unsere Beute auf Dereks Bett aus. Derek nimmt eine Banane, und ich nehme einen Müsliriegel. Wir essen leise unsere gesunden Snacks, seitlich aufgestützt unter der Decke.
    Als ich wieder in New York bin, wache ich um vier Uhr früh auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich setze Wasser auf und lasse den Hund raus. Dann heize ich den Ofen vor und suche nach Schokolade und Butter. Ich finde eine halbe Tafel Scharffen-Berger-Schokolade im Kühlschrank und zwölf einzeln verpackte Ghirardelli-Täfelchen im Schrank. Genau die Menge, die ich brauche. Ich lasse die Schokolade schmelzen. Dann lasse ich den Hund wieder rein, und er sieht mir aus seiner Ecke in der Küche zu, wie ich Butter und Zucker mische. Ich probiere eine Fingerspitze vom Schüsselrand.
    Die schmelzende Schokolade nimmt einen helleren, glänzenden Braunton an. Früher war ich neidisch auf die haselnussbraunen Augen meines Bruders, und das habe ich ihm einmal gesagt. Er sagte, er hätte lieber dunkelbraune wie meine. Für meinen vorpubertären Kopf war es unvorstellbar, dass er, zu dem ich in jeglicher Hinsicht aufsah, etwas haben wollen könnte, das mir gehörte.
    Als ich eine schmutzige Pfanne schrubbe, steigt mir der fischige Geruch des Heilbutts vom Vorabend in die Nase. Plötzlich bin ich wieder auf einem Steg am Ontario-See: ein dunkler Frühlingsabend während der Schulzeit, als mein Vater uns mit zum Ufer nahm, um die Stinte springen zu sehen. In den Gummistiefeln meines Bruders rannte ich den Steg hoch und runter und »half« meinem Vater und den anderen Vätern, die winzigen silbrigen Fischchen aus dem schwarzen Wasser zu holen. Wir schleppten einen stinkenden weißen Plastikeimer nach Hause zu meiner Mutter. Ein paar Jahre später wurde der Vater einer Klassenkameradin an derselben Stelle tot aus dem See gefischt. Daran muss ich denken, und, während ich drei Eier undein Eigelb in eine Schüssel gebe und mit der Gabel schaumig schlage, an den schillernden rosa Nagellack, den mir das Mädchen einmal geschenkt hat. Ich erinnere mich, wie sie bei einer Inszenierung des Toronto Young People’s Theatre in der fünften Klasse den Estragon in Warten auf Godot gespielt hat.
    Mir fällt die Zuckertüte auf den Boden. Als ich den Zucker zusammenkehre, steckt mir immer noch schläfrige Ungeschicktheit in den Knochen. Einen kurzen Moment bin ich versucht, mir die Kristalle mit einem Löffel in den Mund zu schieben, so wie früher, als ich zu schwimmen anfing.
    Morgens ist meine Lust auf Süßes am stärksten. Als Schwimmerin war ich an den konstanten Appetit und die konstante Müdigkeit gewöhnt, wie wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben. Ich verbrachte täglich Stunden unter Wasser, bei angehaltenem Atem, ohne fühlen, riechen, hören oder viel sehen zu können. Nach dem Training starrte ich in den Kühlschrank, suchte nach Resten und aß heimlich Butterstückchen. Oder ich schob mir, wenn ich in die Küche geschickt wurde, um etwas zu holen, suppenlöffelweise Zucker in den Mund, bevor ich zurück an den Tisch kam.
    In den zwei Wochen vor einem großen Wettkampf verzichtete ich auf Nachtisch und Süßigkeiten. Es gehörte zu meinem Vorbereitungsritual – für diejenigen von uns, die antraten, sah unser Trainer ein weniger schweres Training vor, und ich beschnitt dazu meine Zuckerzufuhr, um bei der Begegnung einen größeren

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