Bahnen ziehen (German Edition)
mehr hinter allen anderen her, mit Tränen in den Augen und Seitenstechen. Beim Laufen starre ich auf den Boden, folge dem ruckelnden Verlauf der mit räudigem Gras bewachsenen Pfade, während auf den mächtigen Überführungen von Etobicoke das gleichgültige graue Rauschen des normalen Lebens über mich hinwegrast.
Trotz meines Elends werde ich in den ersten paar Monaten dramatisch schneller. Der Aufstieg auf der nationalen Rangliste, die Intensität von Mitchs Training und die Zugehörigkeit zu einer Elite-Mannschaft geben mir ein neues Gefühl von Sicherheit, Stolz und Zielbewusstheit, ein Gefühl, das leicht gedämpft wird von der Tatsache, dass ich mir bei großen Wettkämpfen das Musterset der teuren Mannschaftsuniform leihen muss. Es ist mir zu groß, also krempele ich Ärmel und Beine hoch. Ich passe gut darauf auf: falte die Uniform ordentlich zusammen, ziehe sie beim Essen aus, weil ich weiß, dass ich sie zurückgeben muss, wenn wir wieder zu Hause sind.
Das Becken des Olympiums wird während der 25-Meter-Kurzbahn-Saison von einem weißen Schott in zwei Hälften geteilt, aber für das Training auf der langen Bahn bewegen wir das Schott jeden Morgen langsam durchs Becken zum tiefen Ende. Auf jeder Beckenseite schieben drei oder vier Jungs, über das Schott gebeugt wie ein Mini-Iwo-Jima-Tableau in trockenen zweilagigen Badehosen, wobei sie aufpassen müssen, dass die Bewegung gleichmäßig vorangeht und das Schott sich nicht diagonal verkeilt. Pro Bahn sitzt ein Mädchen auf dem Schott und hält die ausgehakte Trennleine hoch. Im Anschluss werden die Leinen mit einer schweren Winde gespannt, die häufig ins Wasser fällt und zum Grund sinkt. Ich bin dankbar für diese Vorübung, eine Gnadenfrist vor der Strafe des Trainings.
Am Morgen summt das Innere der Halle, wenn die Dichte der chlorhaltigen Luft über der Wasseroberfläche die Gehörskala erweitert. Nach der Hälfte des Trainings machen wir Streckentauchen, fünfzig Meter unter Wasser. Wir drücken uns aneinem Ende ab und lassen uns gleiten, schlagen geräuschlos mit den Beinen durchs Blau. Am anderen Ende lassen wir die Luft aus der Lunge, die in gedämpften Explosionen zur Oberfläche blubbert. Wenn wir hoch kommen, hallt unser Keuchen im Schwimmbad wider. Überwacht wird das Ganze vom lautlosen Ticken der Stoppuhr, die die Zeit verschluckt, die Ruhe, die Sekunden an der Luft, bevor wir wieder Luft holen und untertauchen.
Irgendwann frage ich meinen Bruder abends am Telefon, ob es ihm etwas ausgemacht hat, dass ich schneller geschwommen bin als er.
»Du warst genauso schnell wie ich, als ich aufgehört habe, und dann bist du zu Etobicoke Pepsi gegangen, da war es klar, dass du besser werden würdest. Es hat mich nicht gestört, weil es logisch war, du warst besser, und es war dir viel wichtiger als mir.« Er macht eine Pause. »Ich war stolz auf dich. Ich habe ein paarmal mit euch trainiert, aber die Jungs in deiner Gruppe waren Arschlöcher. Die Kiffer, mit denen ich sonst geschwommen bin, waren viel cooler. Sie haben die bessere Musik gehört.«
Wir reden ein bisschen über Thys und Christian, zwei Brüder aus der mittleren Altersgruppe, deren Kleider- und Musikgeschmack um Lichtjahre besser war als unserer.
»Das Aufhören ist mir leicht gefallen«, erklärt Derek. »Mein letzter Wettkampf war hundert Meter Freistil bei irgendeiner Provinzmeisterschaft. Ich bin eine Bestzeit geschwommen, aber danach haben mir die Schultern so weh getan, dass ich kaum aus dem Becken kam.« Er lacht. »Ich glaube, am gleichen Tag wurde meinetwegen die Staffel disqualifiziert.«
Der Kraftraum liegt im Keller des Etobicoke Olympium Athletic Complex. Es ist ein kleiner Raum mit Betonwänden, die glänzend hellgelb gestrichen sind. Von der pockigen Vertäfelung der abgehängten Decke strahlen Neonröhren bläulich weiß und kalt herunter. Die Tür schabt beim Schließen über die graue Auslegeware. Die Frauenmannschaft hat an drei Abenden die Woche Krafttraining, zusätzlich zum Widerstandstraining mit Expandern und Jogging, und wir notieren unsere Fortschritte in schlampigen Zahlensäulen unter Abkürzungen in Großbuchstaben – LATS , DIPS , DELTS , CURLS , SQUATS , PRESS –; die fotokopierten Tabellen verwischen im Lauf eines Monats und bekommen Eselsohren. Der Kraftraum hat einen ganz eigenen Geruch: nach Stahlgewichten, Schmieröl, getrocknetem Schweiß, altem Teppich und vinylbezogenen Bänken. Es ist ein salziger Eisengeruch, der beim Training der
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