Bahnen ziehen (German Edition)
verabschieden sie sich und gehen davon. Die Kamera folgt ihnen, als sie sich zerstreuen, findet Mrs. Mitchell, die sich zwischen den geparkten Wagen hindurchschlängelt, und zoomt heran. Mrs. Mitchell winkt und tritt hinter unseren grünen Van, wobei sie mit den Händen das Zeichen für »Schnitt« macht. »Die Kamera läuft nicht!« Mein Vater lacht, dann fragt er: »Wann kommt ihr zu uns rüber, um zu gucken?«
Mrs. Mitchell legt den Kopf schräg und entgegnet: »Wann kommt ihr zu uns rüber, um zu gucken?«
Das Band stoppt. Dann geht es weiter, die Kamera schwenkt zur Schwimmhalle, aus der Derek und ich in identischen Levi’s-Jeansjacken herauskommen, die Ärmel gleich weit aufgerollt. Die Kamera zoomt heran, wir verschwimmen, dann werden wir wieder scharf. Ich gehe direkt auf die Kamera zu und frage meinen Vater durch die Linse:
»Können wir zu Ames gehen? Da gibt es Jams-Shorts.«
Ich erhalte keine Antwort.
»Ach, bitte, können wir zu Ames? Bitte? In Kanada gibt es kein Ames.«
Ich bettele verzweifelt die Linse an. Die Kamera schwenkt und filmt meinen Bruder, der mit verschränkten Armen am Wagen lehnt. Im Off geht meine Bettelei weiter, während mein Vater Derek heranzoomt (erst verschwommen, dann scharf), der schlechte Laune hat, weil er schlecht geschwommen ist. Derek fragt die Kamera, ob wir essen gehen können. Das Band stoppt, und das Bild löst sich in Schnee auf.
Während ich die Kassette zurückspule, erinnere ich mich, dass wir damals nicht ins Restaurant gegangen sind; die beiden Teams trafen sich bei jemandem zu Hause, wo am Swimmingpool gegrillt wurde. Irgendwann stellte ich meinen Pappteller ab und fragte nach der Toilette. Ich wurde zu einer Art Strohhütte im Garten geführt, die mit gelbbraunem Palmen-Tukan-Muster tapeziert war. Neben dem Waschbecken hing ein lackiertes Holzschild an der Wand, auf dem stand: Pinkel nicht in unseren Pool; wir schwimmen auch nicht in eurem Klo .
E TOBICOKE
Derek hat eine Schallplatte mit dem Titel »Das Lied der Buckelwale«. Sie war einem seiner Naturbücher beigelegt und ist auf eine weiche rote Plastikfolie gepresst, die man zum Abspielen auf eine andere 45er-Platte legt. Nach dem Mittagessen liegen Derek und ich im Wohnzimmer auf dem Bauch und lauschen dem tiefen Klagen und Stöhnen der Wale. Nach einer halben Stunde gehen wir schwimmen.
Derek ist neun, ich bin sieben. Wir spielen ein Spiel, das wir »Schiffbruch« nennen: Nachdem wir weit draußen auf dem Meer Schiffbruch erlitten haben, schwimmen wir seit Tagen und sind schon fast tot. Da ist eine Insel in Sichtweite, aber unsere Kräfte lassen nach. Das Spiel fängt etwa vier Meter vom Beckenrand des Serson-Schwimmbads entfernt an.
»Land in Sicht – du darfst nicht aufgeben!«
Derek, dessen Kopf ins Wasser rollt:
»Ich weiß nicht, ob ich es schaffe ...«
Je näher wir dem rettenden Ufer kommen, desto schwächer werden wir.
»Ich schaffe es nicht ... gluckgluck ...«
»Blubber ... gluck ... Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht ...«
»Mir ist so kalt ...«
»Nein. Nicht aufgeben, wir sind fast da!«
Ich versuche, Derek zu helfen, indem ich an seinen Armen ziehe. Er schlägt wild um sich, platscht aufs Wasser und entzieht sich meinem Griff.
»Geh ohne mich ... rette dich ...«
Auf dem Sprungbrett am tiefen Ende steht ein pummeliges Mädchen mit Sonnenbrand, gefolgt von einem braungebrannten Teenager in abgeschnittenen Jeans. Hinter ihnen wartet ein indischer Junge, bis er an der Reihe ist, und macht einen sauberen Kopfsprung rückwärts. Dahinter steht ein bleicher Mann, der eine dünne Kette mit Kreuz um den Hals trägt. Er faltet die Arme über der Brust, schwingt sein langes Haar zur Seite, um es aus dem Gesicht zu kriegen; seine Freundin steht hinter ihm, und er spricht mit ihr, ohne sich umzudrehen. Er bereitet sich auf eine Bombe vor. Sie hat einen nassen dünnen blonden Pferdeschwanz, der steif nach unten zeigt. Sie zupft ihren Badeanzug am Po zurecht und hält sich beim Springen die Nase zu. Ihre Freundin, die sich die Haare nicht nass machen will, sieht von der Seite zu. Sie tritt mit den Füßen im Wasser, die Beine an den Knöcheln gekreuzt.
Wir sind nur noch ein kleines Stück vom Beckenrand entfernt. Wir strecken die Arme nach der blauen Wand mit der Betonlippe aus und versuchen uns festzuhalten, doch wir gleiten immer wieder ab und rutschen zurück ins Wasser. So geht es etwas zwanzig Minuten, bis wir es endlich geschafft haben, uns rausstemmen und auf dem
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