Bahners, Patrick
mit
dem wachsenden Anteil muslimischer Schüler. Die Folgen eines Kopftuchverbots
für die Religionsfreiheit muslimischer Schüler sind bezeichnenderweise im
Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Thema.
Negative und positive Freiheit
Der Schein der Zurückhaltung im judikativen Kernbereich
ist in einem wesentlichen Punkt trügerisch. Ohne selbst die Abwägung unter den
betroffenen Grundrechten vorzunehmen, traf die Senatsmehrheit mit der
Aufzählung dieser Rechte eine Vorentscheidung, deren Begründung sie schuldig
blieb. Die Feststellung, die von Fereshta Ludin «in Anspruch genommene Freiheit
der Betätigung ihrer Glaubensüberzeugung durch das Tragen des Kopftuchs in
Schule und Unterricht» treffe «auf die negative Glaubensfreiheit der
Schülerinnen und Schüler», nimmt stillschweigend eine folgenreiche Ausweitung
des Begriffs der negativen Glaubensfreiheit vor. Mit dieser negativen Freiheit
ist eigentlich das Recht gemeint, nicht zu glauben, keine Glaubensüberzeugung
zu bekunden und an liturgischen Verrichtungen nicht teilzunehmen. In
historischer Betrachtung ist die negative Glaubensfreiheit das Recht des
Dissenters, des Angehörigen einer religiösen Minderheit, der sich gegen
staatskirchliche Teilnahmepflichten zur Wehr setzte. Im Zeitalter der
Freiwilligkeit aller religiösen Betätigung hat sich der Sonderbegriff der
negativen Religionsfreiheit eigentlich erledigt. Wer die Zeugen Jehovas nicht
ins Haus lässt, macht nicht von seiner negativen Religionsfreiheit Gebrauch, da
er sie natürlich fortschicken kann wie jeden anderen Zeitschriftenwerber. Das
Abwehrrecht der Freiheit zum Nicht-Bekennen setzt den Versuch des Zwangs
voraus.
Nun wird behauptet, dass eine solche Zwangslage in der
Schule gegeben ist. Aber das Besondere der pädagogischen Situation in der
Pflichtschule wird durch den Rückgriff auf den allgemeinen Begriff der
negativen Glaubensfreiheit verdeckt. Das Gericht führt aus, Artikel 4 gewährleiste «auch die Freiheit, kultischen Handlungen
eines nicht geteilten Glaubens fern zu bleiben». Der folgende Halbsatz dehnt
diese klassische Definition der negativen Glaubensfreiheit unter der Hand aus
und wird konfus: «das bezieht sich auch auf Kulte und Symbole, in denen ein
Glaube oder eine Religion sich darstellt». Was gibt es denn für Kulte, in denen
sich die jeweilige Religion nicht darstellt? Die Wiederholung des Kultbezugs
lenkt davon ab, dass hier eine Freiheit zum Symbolboykott eingeschmuggelt wird.
Aber wie bleibt man Symbolen fern? Wer in ein Taxi einsteigt, an dessen Windschutzscheibe
eine Christophorusplakette klebt, mag den Fahrer bitten, dieses Sinnbild des
Aberglaubens zu entfernen und sich auf die Straße zu konzentrieren. Einen
grundrechtlichen Anspruch auf diese Säuberung hat er nicht. Das muss auch das
Gericht anerkennen: In «einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen
Raum gibt», hat niemand «ein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen,
kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben».
In der Schule soll es dieses Recht, sich den Anblick
irritierender Zeichen zu verbitten, dann aber plötzlich doch geben, weil die
Schüler «ohne Ausweichmöglichkeit» dem Lehrer ausgesetzt sind. Das Gericht
verweist auf den ins Grundgesetz übernommenen Artikel 136 Absatz 4 der Weimarer Reichsverfassung, der verbietet, jemanden zur
Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen. Hätte Frau Ludin im
Einstellungsgespräch angekündigt, sie wolle jeden Morgen mit der Klasse zu
Allah beten, hätte das auch dann Zweifel an ihrer Eignung begründet, wenn sie
versichert hätte, den Schülern werde die Teilnahme natürlich freistehen. Aber
verwandelt allein das Kopftuch der Lehrerin jede Schulstunde in eine religiöse
Übung? Nur weil die Schüler diesem Merkmal ihrer Person ebenso wenig ausweichen
können wie jedem anderen? Muslimische Eltern dürfen nicht verlangen, dass ihre
Söhne nicht von Frauen unterrichtet werden. Warum soll es ein Elternrecht
darauf geben, dass eine muslimische Lehrerin nicht als Muslimin erkennbar ist?
Das Urteil fordert den Gesetzgeber auf, das «unvermeidliche
Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers
einerseits» und der «negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter
Berücksichtigung des Toleranzgebots zu lösen». Doch wenn man einmal den
Schülern eine Position der negativen Glaubensfreiheit zuschreibt, ist für
Toleranz kein Spielraum mehr da. Negativ heißt
Weitere Kostenlose Bücher