Bahners, Patrick
«Parallelgesellschaft» und einen ganzen Kranz
feststehender Illustrationen, die so konventionell sind wie die schmückenden
Beiworte der Helden in den Epen Homers. Das «offene Reden» über die «Tatsachen»
des Zusammenlebens mit Eingewanderten reproduziert ein pawlowsches System von
Reizwörtern. Vielleicht überblicken die Politiker nicht, welche Bedeutungen
ein Publikum mit diesen Vokabeln unweigerlich assoziiert, das über viele Jahre
in Bestsellern, Internetforen und Zeitungsreportagen wieder und wieder
dasselbe gelesen hat. Dass die Formeln voraussetzen, der Wille zur
Selbstausgrenzung sei das eigentliche Hindernis der Integration, ist schon
problematisch genug. Sehr viele, die die Formeln hören, haben zudem keine
Scheu, den Willen näher zu bestimmen: als fanatische Entschlossenheit zum Gehorsam
gegen Allah. Die Kernthese der Islamkritik, dass die Religion der Muslime der
wahre Grund aller Probleme muslimischer Einwanderer ist, wird von Politikern
gelegentlich ausdrücklich verneint. Doch das fällt kaum ins Gewicht neben dem
durchgehenden Rückgriff auf ein Ensemble von Gemeinplätzen, das von dieser
These zusammengehalten wird. Die Rücksichten, die Politiker zu nehmen
scheinen, wenn sie sich nicht auf eine einzige Ursache festlegen wollen, können
ihre Zuhörer sich sparen.
Es widerspricht der religionshistorischen Erfahrung, dass
Asozialität und Frömmigkeit korrelieren, dass also gerade die Phänomene des
zerstörerischen und selbstzerstörerischen Verhaltens in Milieus der
Chancenarmen, die auch die Öffentlichkeit jenseits des Fanpublikums der
Islamkritiker beunruhigen, Folgen religiöser Disziplinierung sein sollen. Aber
die islamkritische These bezwingt durch ihre Simplizität, und die Kautelen, mit
denen Politiker islamkritische Topoi versehen, steigern in den Augen der
Überzeugten als klägliche Reste der einstmals herrschenden politischen
Korrektheit noch einmal die Evidenz der These. Die gelehrte Literatur der
politischen Paranoiker zeichnet sich nach Richard Hofstadter durch ihre
Kohärenz aus. «Tatsächlich ist sie viel kohärenter als die wirkliche Welt.» In
den Tagen nach der Rede des Bundespräsidenten zum Jubiläum der
Wiedervereinigung reiste Angela Merkel durch Deutschland, um sich auf
sogenannten Regionalkonferenzen der CDU um die Parteiseele zu kümmern. Einen
Satz sagte sie überall, und er löste überall rauschenden Beifall aus: «Es gilt
in Deutschland ganz eindeutig das Grundgesetz und nicht die Scharia.» Man könnte
in diesem Satz den Höhepunkt jener listigen Rhetorik der entwaffnenden
Schlichtheit sehen, von der Wolfgang Schäuble, Christian Wulff und Angela
Merkel selbst mit wechselndem Erfolg Gebrauch gemacht haben, um ihre Landsleute
an die Normalität der Existenz von Muslimen in Deutschland zu gewöhnen. Der Islam
ist ein Teil von Deutschland, ja, er gehört zu Deutschland. Zu verbreiten,
durch die Aufnahme von Muslimen schaffe Deutschland sich ab, ist nicht
hilfreich. Denn in Deutschland gilt das Grundgesetz und nicht die Scharia.
Durch die Feststellung des Selbstverständlichen, diese
Absicht könnte man hinter Frau Merkels Worten vermuten, verfliegt mit einem
Schlag der ganze Spuk. Man schlägt sich an den Kopf: Ach ja, in Deutschland
gilt das Grundgesetz, wie konnte ich das vergessen! Aber leider hat sich Frau
Merkel nicht auf den einen klaren und nüchternen Satz beschränkt, sondern
beispielsweise in Wiesbaden hinzugefügt, «in manchen Ausprägungen» passe der
Islam nicht zu «unserer» Verfassung: So seien «Zwangsverheiratungen und
Ehrenmorde» nicht Teil «unserer» Grundordnung. Die Bundeskanzlerin verbreitete
also die schwarze Legende, es gebe in gewissen Richtungen des Islam das
religiöse Gebot, die Tochter gegen ihren Willen zu verheiraten und bei einem
Verstoß gegen den Sittlichkeitsbegriff der Familie umzubringen. Frau Merkel
versicherte den CDU-Mitgliedern zwar, das Grundgesetz sei nicht in Gefahr, die
Einführung der Scharia in Deutschland sei nicht zu befürchten. Aber indem sie
Grundgesetz und Scharia als Gegensatzpaar in den Raum stellte, hatte sie die
Anpassung an das Weltbild der Islamkritik vollzogen. Henryk M. Broder hat
Recht: «So wie jeder Dammbruch mit winzigen Haarrissen anfängt, so rücken
pathologische Ideen von den Rändern der Gesellschaft in ihr Zentrum vor.»
KAPITEL 3
Das Kopftuch. Ein Streit ohne Gegenstand
Scham, Liebe zum Recht, Frömmigkeit, Treu' und Glaube sind
kleine Tugenden für Bürger, Seneca,
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