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Bahners, Patrick

Bahners, Patrick

Titel: Bahners, Patrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Panik-Macher
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verlieren, Mr.
Worthing, mag man als Missgeschick betrachten; beide zu verlieren sieht nach
Sorglosigkeit aus.» Umgekehrt gilt dann: Eine Kopftuchträgerin, die in der
Klasse nicht aneckt, mag Glück gehabt haben; zwanzig Kopftuchträgerinnen, die
ohne Beanstandung unterrichten, sind ein Grund, sich keine Sorgen einreden zu
lassen.
     
    Winfried Hassemers Moment
     
    Das Abstimmungsverhältnis im Zweiten Senat war knapp. Der
Verfassungsbeschwerde wurde mit fünf gegen drei Stimmen stattgegeben. Fereshta
Ludin hatte gesiegt. Aber es war ein Pyrrhussieg. Der Senatsvorsitzende,
Vizepräsident Winfried Hassemer, sprach das schon bei der Urteilsverkündung
aus. Hassemer hatte eine sehr bestimmte Vorstellung von der politischen
Verantwortung des Gerichts und hielt es für seine Pflicht, stets möglichst
griffig zu erklären, was die Richter eigentlich entschieden hatten. Die
Verkündüngstermine, die doch die Spannung auflösen, damit Rechtsfrieden
eintreten kann, waren in seiner Ära Momente der Dramatisierung. Am 24. September
2003 verlas er den Beschluss über die Aufhebung des Urteils des
Bundesverwaltungsgerichts wegen Verletzung der Grundrechte der
Beschwerdeführerin und schob dann vor den Gründen die Warnung ein, man dürfe
den Beschluss nicht so verstehen, wie er klinge. Die Richtermehrheit war zwar
zu dem Schluss gekommen, dass eine abstrakte Gefahr der Störung des
Schulfriedens nicht genügte, um eine Lehrerin als ungeeignet abzustempeln. Aber
der Mangel des badenwürttembergischen Vorgehens sollte durch ein Gesetz geheilt
werden können. Der Landesgesetzgeber musste den Eingriff in die
Glaubensfreiheit ausdrücklich vorsehen und rechtfertigen. Ein solches Gesetz
durfte dann auch festlegen, dass ein Merkmal wie das Kopftuchtragen für sich
genommen ausreichte, um eine Bewerberin abzuweisen, ohne Konkretisierung der
Störungsgefahr im individuellen Fall.
    Mit Verblüffung wurde aufgenommen, dass die Senatsmehrheit
den Ausgleich zwischen den betroffenen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht
selbst vornahm, sondern den sechzehn Landesgesetzgebern überließ. Ein solches
Zurückspielen des Balls in den politischen Raum entsprach aber durchaus dem
Rollenverständnis Hassemers, wie es ähnlich seine Kollegin Gertrude Lübbe-Wolff
vertritt, die im Kopftuchfall ebenfalls zur Mehrheit gehörte. Diese von der
SPD nominierten Richter orientieren sich an einem amerikanischen Ideal der
richterlichen Zurückhaltung. Die Ausgestaltung der Grundrechte soll in erster
Linie Sache des demokratischen Gesetzgebers sein. Ein Parlament, pflegt etwa
der amerikanische Verfassungsrichter Stephen Breyer zu argumentieren, verfügt
über ganz andere Informationsmöglichkeiten als ein Gericht. Diese Vorstellung
eines umfassenden Sondierungsprozesses in der politischen Öffentlichkeit, der
die parlamentarische Entscheidungsfindung mit Informationen speist, stand
hinter einem Satz in Hassemers Vortrag, der in dieser Form nicht im Urteil
erscheint: Wir wüssten noch nicht genug über das Kopftuch. Unterschiedliche
Regelungen der Länder waren in dieser Perspektive geradezu erwünscht: Der
föderalistische Wettbewerb - auch dies ein aus dem amerikanischen juristischen
Pragmatismus übernommener Gedanke - erzeugt empirisches Wissen über die
tatsächlichen Konsequenzen verschiedener normativer Optionen.
    Das Gericht stellte den Ländern eine gemeinsame Aufgabe,
die es allerdings nicht rechtlich, sondern politisch definierte: eine Antwort
zu finden auf den «mit zunehmender religiöser Pluralität verbundenen gesellschaftlichen
Wandel». An einen Scheideweg sah sich der Gesetzgeber von der Senatsmehrheit
geführt. Er konnte entweder, wie es das Bundesverwaltungsgericht vorgezeichnet
hatte, eine striktere Auslegung des Prinzips der staatlichen Neutralität
fixieren und religiöse Bekundungen in der Schule zurückdrängen oder umgekehrt
die traditionell diesen Bekundungen gewährte Toleranz auf nichtchristliche
Zeichen ausdehnen. Richterliche Zurückhaltung bedeutete hier den Rückzug auf
die Position eines Spielleiters. Es zeigte sich, dass es auch einen Übereifer
der Bescheidenheit gibt: Die Richter behielten die rechtliche Weisung für sich,
für die man sie braucht, und übten sich in einer Kunst, für die man sie nicht
unbedingt braucht, in der soziologischen Kaffeesatzlektüre. Das
Bundesverwaltungsgericht hatte den ominösen gesellschaftlichen Wandel mit
«einem wachsenden Anteil bekenntnisloser Schüler» belegt und nicht (auch)

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