Bahners, Patrick
diese Freiheit nicht, weil sie
ihrem Inhaber eine religionsfreie Zone garantierte, einen Sicherheitsabstand,
der ein Ausweichen vor jedem Bekenner erlaubte. Negieren heißt verneinen: Die
negative Glaubensfreiheit schlägt nur durch, wenn es Glaubenszwang abzuwehren
gilt; dann schlägt sie aber auch durch. Sie ist ein Vetorecht: Die negative
Freiheit sticht die positive. Andersherum gesagt: Die (positive)
Glaubensfreiheit muss zurücktreten, wenn ihre Ausübung einen Zwang auf Dritte
ausübt. Ein Kompromiss - ein bisschen Zwang muss man dulden - ist
ausgeschlossen.
Hier ist das Sondervotum der drei überstimmten Richter
Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, die die Verfassungsbeschwerde abweisen
wollten, konsequent. Die Minderheit setzt durchaus vernünftigerweise bei den
Beamtenpflichten und der Asymmetrie des Schüler-Lehrer-Verhältnisses an. Der
Lehrer arbeitet für die Schüler, deshalb ist er Lehrer geworden. In der Schule
müssen die Rechte des Schülers zur Entfaltung kommen, und wenn der Staat den
Schulbesuch zur Pflicht macht, muss der Schutz dieser Rechte seine besondere
Sorge sein. Zurückhaltung im Äußern von Ansichten wie in allen anderen Formen
der Selbstdarstellung ist eine Pflicht, die in der Natur des Lehrerberufs
liegt. Als Verstoß gegen dieses «Mäßigungsgebot» bewertet das Sondervotum das
«kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht». Doch welchen
Kompromiss wollten die drei Richter der Beschwerdeführerin damit nahelegen?
Hätte Fereshta Ludin ihr Kopftuch im täglichen Wechsel anziehen und ablegen
sollen? Die Pflicht, auf die sie sich berief, ist nicht von der Art der
Mildtätigkeit oder des Gebetseifers. Sie ist so unbedingt wie bestimmt. Das
Kopftuchtragen kann man nicht dosieren. Damit fehlt dem Verdikt des Maßlosen
oder Unmäßigen der Maßstab.
Die Minderheit hat der Mehrheit vorgeworfen, sie erläutere
den Ländern nicht, wie ein verfassungsgemäßes Gesetz aussehen könnte. Offenbar
wolle die Mehrheit sich vorbehalten, die nach dem Urteil zu erwartenden
Kopftuchgesetze wieder aufzuheben, ohne die Kriterien dieser Überprüfung
offenzulegen. Dieser Verzicht auf eine Richtschnur lässt sich auch im
entgegengesetzten Sinne deuten. Die Freiheit, die der Senat den Bundesländern
eingeräumt hat, wird es ihm schwer machen, die Regelungen zu beanstanden.
Stellenweise liest sich das Urteil geradezu als Einladung, eine Gesetzeslücke
zu schließen: «Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es jedoch frei, die
bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen, etwa indem er im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der
Schule neu bestimmt.» Eine fehlende Grundlage ist etwas anderes als eine nicht
vorhandene, das «bislang» macht die Änderung zu einer Frage der Zeit. Viele
Beispiele wird es nicht dafür geben, dass das Verfassungsgericht einer
Verfassungsbeschwerde stattgibt und den Gesetzgeber beinahe auffordert, das
wiederhergestellte Recht zu beseitigen. Am meisten befremdet im zitierten Satz
das nonchalante «etwa», das suggeriert, hier werde eine von zahlreichen
Möglichkeiten umrissen, als wäre nicht jedes Kopftuchgesetz erstens auf eine
Neubestimmung der Zulässigkeitsgrenzen für Manifestationen religiöser
Zugehörigkeit gerichtet und zweitens an die verfassungsrechtlichen Vorgaben
gebunden.
Die Hermeneutik des Verdachts
Das Urteil stellte es den Ländern frei, gesetzgeberisch
gegen kopftuchtragende Lehrerinnen vorzugehen, und acht von sechzehn Ländern
waren so frei, der Anregung zu folgen. Das Zahlenverhältnis erweckt insofern
einen falschen Eindruck, als sich für die ostdeutschen Bundesländer, in denen
fast keine Muslime leben, die Frage eines Gesetzes nicht stellte. Immerhin
bewährte sich dort die alte liberale Maxime: Wenn es nicht notwendig ist, ein
Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. Wie lange man auf
eine solche Intuition der Gelassenheit noch vertrauen kann, scheint im Licht
der jüngsten Diskussionen um ein Verbot der Totalverhüllung ungewiss. Von den
elf Ländern der alten Bundesrepublik inklusive Berlin haben nur Hamburg,
Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein kein Kopftuchverbot für Lehrerinnen in
Kraft gesetzt. Artikel 33 Absatz 2
des Grundgesetzes bestimmt, dass jeder Deutsche «nach seiner Eignung,
Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte»
hat. Der dritte Absatz fügt hinzu, dass die Zulassung zu öffentlichen
Weitere Kostenlose Bücher