Baltasar Senner 03 - Busspredigt
nicht länger warten, aber der Sekretär vertröstete ihn mit dem Hinweis, Seine Exzellenz sei gerade bei einem Termin, würde aber sicher zurückrufen.
Baltasar beschloss, dass sein Arbeitstag damit für heute beendet war. Sein oberster Dienstherr im Himmel würde sicher nichts dagegen haben. Er wusste auch schon, was er machen würde, schnappte sich den Autoschlüssel und fuhr los.
*
Sein Ziel war Zwiesel. Es zog ihn zurück an den Tatort, er hätte niemandem erklären können, was genau er dort suchte. Vielleicht wollte er in Ruhe nochmals die Stelle besichtigen, wo er seinen Nachbarn das letzte Mal gesehen hatte. Er fand eine Parklücke in der Oberzwieselauer Straße und schlenderte den Stadtplatz hinunter, genau genommen eine lang gezogene Durchgangsstraße, die leicht bergab führte, umrahmt von Häusern mit schmucken Fassaden und am anderen Ende übergehend in die B 11. Quer über die Straße waren Fähnchen gespannt, Blumentröge schmückten die Gehsteige.
Die Stadt setzte in ihrem Bemühen, Urlauber anzulocken, auf die Reize als Luftkurort und auf ihre glänzende Vergangenheit als ein Zentrum der bayerischen Glasindustrie. Dennoch konnte dies die Tatsache nicht überdecken, dass das Ortszentrum unter schleichender Auszehrung litt, wie jemand, der nur hustete, bei dem man aber schlimmere Krankheiten vermutete. Denn die gewachsenen Strukturen hatten sich abgeschliffen und waren kaum noch erkennbar. Wo einst alteingesessene Geschäfte gewesen waren, hatten sich jetzt Imbissbuden, Kettenläden und einfache Cafés breitgemacht.
Bei seinem Spaziergang stieß Baltasar immer wieder auf leere Schaufensterfronten mit »Zu vermieten«-Schildern.
Er betrat das Rathaus und ließ sich in der Touristeninformation einen Stadtplan geben. Ein Prospekt warb mit Führungen durch die unterirdischen Gänge. Baltasar vergegenwärtigte sich, dass das Erdreich unter dem Gehweg löchrig war wie ein Schwamm, ein Erbe des Mittelalters, als die Einwohner kreuz und quer unter dem Stadtplatz geheime Stollen gegraben hatten, um vor Feinden unbemerkt fliehen zu können.
Bei der Brücke über den Großen Regen bog er nach rechts und nahm den Weg zum Stadtpark. Er stieß auf einen Spielplatz, der am Wasser angelegt war. Eine Mutter beaufsichtigte ihren Kleinen, der einen Kletterturm bestiegen hatte. Sie blickte sich immer wieder nervös um zu einer Gruppe von Jugendlichen, die auf einer Bank saßen oder auf der Wiese lagen und jede Bewegung des Kindes mit Gejohle und Kommentaren begleiteten, dabei prosteten sie der Frau mit ihren Bieren zu. Leere Flaschen, Zigarettenkippen und Reste von Chipstüten lagen überall herum.
Baltasar ging auf die Frau zu. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«
Sie sah ihn dankbar an. »Nein, danke, geht schon, ich verschwinde gleich von hier.«
»Besser so, Mutti! Mach, dass du nach Hause kommst, dein Alter wartet schon auf dich, der will heute noch seinen Spaß!«
Gelächter. Es kam von der Gruppe. Baltasar drehte sich um und ging auf die Clique zu. Einige der Jugendlichen trugen Jogginghosen, die ihnen halb in der Kniekehle hingen und die Unterhosen freilegten, dazu Sweatshirts und Wollmützen mit dem Emblem einer amerikanischen Football-Mannschaft. Andere steckten in Lederjacken und zerrissenen Jeans, wobei Baltasar nicht wusste, ob die Schlitze schon beim Kauf existiert hatten oder versehentlich aufgerissen worden waren. Als Schmuck hatten sie sich Nietengürtel und Stahlketten umgewickelt. Es ging laut zu, ein Radio wummerte einen Rocksong mit aufreizend monotonem Rhythmus. Offensichtlich hatte die Gruppe bereits ein ausgiebigeres Bierpicknick hinter sich.
Ein junger Mann baute sich vor ihm auf, er mochte 16, 17 Jahre alt sein, die Haare waren seitlich ausrasiert, ein Tattoo mit einem abstrakten Muster schlängelte sich um seinen Hals. Er roch nach Alkohol und Zigaretten.
»He, Mann, hast du was mit der Frau, oder machst du nur auf Macker? Verschwinde von hier!«
»Guten Tag, mein Name ist Senner. Pfarrer Baltasar Senner. Und wie heißt du?«
»Geht dich gar nichts an, Alter.« Er wandte sich an seine Kumpels. »Schaut euch diesen Macker an, ist ein Pfaffe, sagt er.« Die Jugendlichen grinsten und hoben ihre Bierflaschen, als ob sie ihm zuprosten wollten. »Ich kenn dich aber nicht, Alter. Solchen Schmarrn könnte jeder Dahergelaufene erzählen, Pfarrer willst du sein? So, so. Kannst du denn die Zehn Gebote auswendig aufsagen?«
Wie zur Bestätigung ließ er einen Rülpser hören, die anderen
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