Baltasar Senner 03 - Busspredigt
Glauben und ihre Wertvorstellungen, deshalb fühlen sie sich in der Kirche gut aufgehoben.«
»Wenn Sie das sagen, Herr Senner. Ich glaube vor allem an mein Gehalt.« Mirwald lachte.
»Ihnen fehlt die Praxis im Glauben«, antwortete Baltasar. »Sie trauen nur Ihrem Verstand, nicht Ihrem Herzen, Herr Doktor Mirwald. Hat denn die Polizei inzwischen neue Erkenntnisse im Mordfall Anton Graf? Sind Sie hier, um jemanden zu verhaften?«
»Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, das wissen Sie doch.« Der Kripobeamte räusperte sich. »Wir sind keine Unmenschen, falls Sie das denken, Herr Senner. Der gewaltsame Tod Ihres Nachbarn berührt uns auch. Deshalb sind wir hier.«
»Und weil wir die Leute im Auge behalten wollen«, ergänzte Dix. »Es ist denkbar, dass der Täter aus dem Umfeld des Opfers stammt. Wir sammeln noch die Fakten. Eine heiße Spur oder einen Verdächtigen haben wir leider noch nicht.«
»Warum hätte jemand aus der Gemeinde meinem Nachbarn etwas antun sollen? Er hatte doch mit niemandem Streit, hielt sich immer zurück, war anderen gegenüber immer höflich.«
»Hochwürden, Sie mögen Ihre Gläubigen zwar kennen«, sagte Dix, »aber in Menschen schlummern oft Dinge, die nur selten an die Oberfläche gelangen.«
*
Baltasar ging zurück in die Kirche, um sich umzuziehen.
In der ersten Reihe saßen zwei Leute, die Köpfe nach vorne geneigt.
»Wollen Sie der Feier nicht beiwohnen?«
Erst als er näher kam, erkannte er die beiden Leute: Quirin Eder und die Frau.
»Das ist meine Mutter, Charlotte Eder.«
Die Frau weinte, ein Schluchzen ließ ihren Körper erbeben. Die Schminke war von den Tränen verschmiert, sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Baltasar sprach ihr und Quirin sein Beileid aus. »Ich verstehe Ihren Schmerz.«
Charlotte Eder richtete sich auf. »Nichts verstehen Sie, Herr Pfarrer! Gar nichts! Ich weine nicht um Anton.«
Für einen Augenblick verschlug es Baltasar die Sprache. Er setzte sich neben sie auf die Bank und betete im Stillen für den Seelenfrieden der beiden.
»Ich weine unseretwegen«, fuhr die Frau fort. »Dieser Tag … Dieser Tag … hat mir bewusst gemacht, was wir alles verloren haben. Unser Leben … hätte ganz anders verlaufen können … wenn nicht Anton, dieser … dieser …«
»Mutter, lass gut sein.« Quirin nahm sie in die Arme. »Jetzt ist es vorbei. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen.«
»Er ist schuld an unserem Unglück. Er hat unser Leben zerstört, mit seiner Selbstsucht, ist nie zu uns gestanden, wollte keine Familie. Hat er mich je besucht? Wie oft hast du deinen Vater gesehen, Quirin? Dabei hat er früher von Liebe geredet. Es waren eben nur Worte, Lügen. Wie die Männer so sind, sie nehmen sich, was sie wollen …« Ihre Stimme war lauter geworden.
»Mutter, beruhig dich.« Quirin drückte sie an sich. »Es ist ja vorbei. Anton ist jetzt tot, er kann dir nichts mehr antun. Er ist nur noch Erinnerung.«
»Anton. Allein wenn ich den Namen höre, ist es wie ein Stich ins Herz.« Sie befreite sich aus Quirins Umarmung. »Ich kann das nicht zulassen. Es ist ungerecht.«
»Was ist ungerecht?«, fragte Baltasar.
»Das Schicksal ist ungerecht. Anton ist ungerecht, der liebe Gott ist ungerecht. Warum hat er Anton nicht für das bestraft, was er mir angetan hat, nach allem, was …« Sie sah Baltasar direkt in die Augen. »Hochwürden, sagen Sie mir, sorgt der Allmächtige im Himmel noch für Gerechtigkeit?«
»Gott ist gerecht. Und wie die Bibel sagt, wartet am Jüngsten Tag das göttliche Gericht auf jeden von uns.«
Quirin reichte seiner Mutter die Hand und half ihr auf. »Komm, lass uns gehen. Herr Senner, gibt es irgendwo einen Ort, wo sich meine Mutter ein wenig frischmachen kann? Mit dem verschmierten Gesicht kann sie nicht in die Öffentlichkeit.«
Baltasar bot ihnen die Sakristei an. »Ich muss mich auch umziehen. Kommen Sie doch einfach mit mir.«
18
E r wollte sich mit Victoria Stowasser über Anton Graf unterhalten. Die Idee war ihm am Vormittag gekommen. Vielleicht kannte die Wirtin seinen Nachbarn als Gast und wusste etwas über ihn und seine Bekannten. Zugleich war es eine gute Gelegenheit, das Mittagessen ins Gasthaus zu verlegen und Teresas Kartoffelsuppe auf den Abend zu verschieben.
Er bestellte eine Rindsroulade, und zwar in erster Linie wegen der Beilage: Kartoffelbrei.
Victoria brachte ihm auf seinen Wunsch hin eine extragroße Portion. Mit dem Löffel formte er einen Berg aus Brei, nannte ihn im Stillen
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