Band 5 - Blutlied
ich auf der seltsamen Schwel e zwischen Wachsein und Schlafen stand, hörte ich Kisten seufzen, während seine Finger immer noch meine Haare streichelten.
»Verlass uns nicht, Rachel«, flüsterte er, offensichtlich ohne zu ahnen, dass ich noch wach war. »Ich glaube nicht, dass Ivy und ich das überleben würden.«
20
Ich stand im nachmittäglichen Sonnenschein vor der Kirchentür, verschob die knisternde Tüte mit Drei-Dol ar-Gebäck und steckte mir den Styroporbecher mit Gourmetkaffee in die Armbeuge. Mit der jetzt freien Hand gelang es mir, den Riegel zu heben, und ich drückte gegen die schwere Tür. Der Riemen meiner Tasche rutschte mir in den El bogen und brachte mich aus dem Gleichgewicht.
Dann stieß ich den angehaltenen Atem aus, als die Tür sich endlich bewegte. Gott sei Dank war sie nicht verriegelt.
Wenn ich durch die Hintertür gegangen wäre, hätte Ivy mich sicherlich gehört.
Ich lauschte, während ich die Tür aufschob. Mein Magen war unruhig. Ich hätte gerne behauptet, dass das vom Schlafmangel kam, aber ich wusste, dass es die Anspannung war, wie die nächste Stunde laufen würde. Kisten hatte meine Haut nicht durchbrochen, aber Ivy würde trotzdem genervt sein, besonders nachdem sie sich gestern so klar ausgedrückt hatte. Auf die eine oder andere Art, mein Leben würde sich verändern - in den nächsten sechzig Minuten.
Aber ich würde Kisten nicht die negativen Konsequenzen tragen lassen. Ivy war meine Mitbewohnerin; es war meine Entscheidung gewesen. Und nachdem ich heute Morgen in Kistens Bad einen kleineren Panikanfal niedergekämpft hatte, war es mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass ich es ihr sagen sol te.
Sie wol te eine Beziehung mit mir, und wenn ich ihr ohne Reue und sachlich gegenübertrat, würde sie ihre Gefühle unterdrücken, bis sie mit ihnen umgehen konnte. Wenn er kleinlaut und schuldig vor sie trat, würde sie wütend werden und Gott weiß was tun. Außerdem hatte Ivy mir gezeigt, was sie anzubieten hatte, und war dann gegangen. Was hatte sie erwartet, das ich tun würde? In meiner Beziehung mit Kisten enthaltsam sein, bis ich al es durchdacht hatte? Kisten war zuerst mein Freund gewesen.
Aber sie war meine Freundin, und ihre Gefühle waren mir wichtig. Die Tüte mit der Godiva-Schokolade und das winzige Glas mit Hartriegel-Honig, das mich zehn Dol ar gekostet hatte, pendelten an meinem kleinen Finger, als ich die Tür zuschob und in der Dunkelheit des Foyers meine Schuhe von den Füßen streifte. Dann war ich mir eben nicht zu fein für Bestechung. Verklagt mich doch.
Eine schwere Stil e ließ mich zögern. Sie war unheimlich, und auf Strümpfen stampfte ich durch den Altarraum.
Ivy hatte ihre Stereoanlage rausgeräumt, auch wenn die Möbel noch in der Ecke standen. Ich überlegte, ob sie auf mich wartete, damit wir das Wohnzimmer zusammen fertig machen konnten. Die Kirche fühlte sich anders an, als ob die Blasphemie an meiner Aura kratzen würde.
Mit gesenktem Kopf huschte ich an ihrer geschlossenen Schlafzimmertür vorbei, weil ich nicht wol te, dass der Kaffeegeruch sie weckte, bevor ich bereit war. Ich war nicht dumm genug, um zu glauben, dass Kaffee, Gebäck, Schokolade und Honig genug sein würden, um Ivys verletzte Gefühle und Jenks' Sorge auszugleichen, aber es würde mir viel eicht ein wenig Zeit verschaffen, bevor die Kacke richtig anfing zu dampfen.
Kisten hatte gemeint, ich sol e ihr erzählen, dass ich ihn gebissen hätte, um ihren Hunger besser zu verstehen, aber das wäre eine Lüge. Ich hatte ihn gebissen, weil ich gewusst hatte, dass es ihm gefal en würde. Dass es sich auch für mich gut angefühlt hatte, war eine unerwartete Überraschung gewesen - und etwas, das mir jetzt ein wenig peinlich war.
Sicher in der Küche angekommen, stel te ich das Gebäck neben der Spüle ab und verzog das Gesicht, als ich das Backblech mit Schokokuchen sah, neben dem ein Becher mit weißem Zuckerguss stand. Sie hat mir einen Kuchen gebacken, während ich mit Kisten geschlafen habe? Super.
»Der schöne Tel er«, sagte ich, unterdrückte meine Schuldgefühle und suchte nach dem Tel er, den Ivy diesen Frühling bei einem Garagenflohmarkt gekauft hatte, nachdem ich gesagt hatte, dass mir die Veilchen auf dem geriffelten Rand gefielen. Weil ich ihn nicht fand, holte ich den obersten Tel er von unserem normalen schwarzen Geschirr heraus und warf einen kurzen Seitenblick in den Flur, als das Geschirr leicht klirrte. Die Tüte knisterte, als ich die
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