Bangkok Tattoo
das Gefühl zu ersticken, nein, sich aufzulösen beim Anblick sorglos plaudernder Menschen hier in Thailand. Seine Isolation war unvorstellbar, und so verspürte er den wahnwitzigen Drang, alle Leute, die ihm begegneten, zu tätowieren, damit sie ihr Leben lang einen Beweis seiner Existenz mit sich herumtrugen. Nach mehr als zwei Tagen ohne Arbeit wurde er von Gewaltphantasien heimgesucht, aus denen es nur eine einzige Fluchtmöglichkeit gab.
»Welche?« fragte Chanya ängstlich.
»Wetten.«
»Wetten?« fragte sie verwirrt.
Ishy erklärte, es handle sich um ein Laster, das man nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe. Er sprach (zumindest im betrunkenen Zustand) hervorragend Thai, weil er soviel Zeit bei Boxwettbewerben, Hahnenkämpfen, Pferde- und sogar Kakerlakenrennen verbrachte und dort alles verspielte. Zur Finanzierung dieser Sucht borgte er sich Geld von Chiu-Chow-Kredithaien. Sein Leben hing permanent an einem seidenen Faden, wenn er versuchte, seine Rückstände bei einem blutrünstigen Gangster durch Anleihen bei einem anderen zu begleichen. Gegenwärtig beliefen sich seine Schulden auf eine Million US-Dollar, hauptsächlich bei Japanern, die ihn vor der Verstümmelung durch die Chiu Chow bewahrt hatten, allerdings durch einen Knebelvertrag.
»Was steht in dem Vertrag?«
»Frag mich das lieber nicht.«
Jeder in Thailand kannte die Chiu-Chow-Kredithaie, und Chanya bezweifelte, daß die Japaner humaner vorgingen. Wenn sie von seiner Geliebten erfuhren, besaßen sie ein Druckmittel. In dem verrückten Versuch, seine geistige Gesundheit zu bewahren, hatte er sein Leben verpfändet.
»Nicht nur mein Leben«, sagte Ishy mit einem ironischen Lächeln.
In ihrer Verzweiflung ertappte Chanya sich dabei, daß sie genau wie ein Mann argumentierte: »Aber wir könnten uns trotzdem von Zeit zu Zeit an einem sicheren Ort treffen, ein paar Stunden Zusammensein, oder?«
Ishy schüttelte den Kopf. Seine Verfolger waren rücksichtslos und beherrschten ihr Metier. Ein weiteres Treffen mit Chanya konnte er nicht riskieren. Auch heute hatte er alles getan, um seine Spuren zu verwischen, und fühlte sich dennoch nicht sicher. Dies waren ihre letzten gemeinsamen Minuten, davon ließ er sich nicht abbringen. So würde er immerhin in dem Wissen ins Grab sinken, sie bis zuletzt beschützt zu haben.
Chanya betrachtet mich mit dem wissenden Blick einer Frau, die jede Schattierung männlicher Eifersucht kennt. Ich lecke mir die Lippen und schlucke, weil ich einen trockenen Mund bekomme. »Schon in Ordnung«, krächze ich.
»Was empfindest du gerade?«
»Ich denke an Mitch Turner.«
44
Es wundert mich, wie oft er mir einfällt (wer immer er auch gewesen sein mag). Er war kein böser Mensch, setzte seine gewaltigen Muskelpakete nie im Zorn ein, und selbst seine verbale Wut gegenüber der Frau, die er liebte, entstammte eher der Verwirrung: Wie hatte er nur einem solchen Mädchen verfallen können? Ich denke wohl hauptsächlich deshalb an ihn, weil er das möchte. Letzte Nacht habe ich ihn als eine Art Supermann-Figur gesehen, gefangen in einem tödlichen Kryptonitbrocken, unfähig, seine Kraft zu nutzen, weil er nicht wagte, ihn zu berühren. Doch das stellte sich als Spiegelung meiner Phantasie heraus. Wenig später präsentierte er sich mir in T-Shirt und Jeans und belächelte müde meine Albernheit. »Hinter dir!« rief ich aus. Da zog er sein T-Shirt hoch und wandte sich um: ein Rechteck in Form eines Bilderrahmens, in dem fremde Worte in einem Code geschrieben standen, den ich nicht entziffern konnte. Er zuckte mit den Achseln: Ihm war es egal, er wollte mir nur bei der Lösung des Falles helfen.
Wieder sitze ich hinten auf einem Motorrad und lausche Pisits Talkshow über Kopfhörer, während wir uns durch den dichten Pendlerverkehr winden. (Autos, Busse und Lastwagen sind die einzigen Objekte, die in dieser buddhistischen Stadt nicht dem Gesetz der permanenten Bewegung unterliegen.) Chanya schlief tief und fest, als ich sie, dem Ruf Vikorns folgend, in unserem Liebesnest zurückließ: wieder ein T808. Nun scheint der alte Mann sich doch Gedanken zu machen.
Pisit hat einen Mordsspaß an der Geschichte über den Mönch in Nonthaburi, der über hundert Millionen Baht auf der Bank hatte, als er vergangene Woche niedergeschossen wurde. Er zitiert aus der in The Nation veröffentlichten Kurzbiographie des Verstorbenen: »Dank seiner Klugheit und Zauberkenntnisse stieg er schnell auf in der Sangha und wurde mit
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