Bank, Zsuzsa
er einen Blick über die schräge Gasse hatte, deren Ende zur Hochschule
abzweigte, zu der Karl aber kaum ging, weil er seine ganze Zeit brauchte, um
Fotos zu schießen, in zwei Sekunden, die für ein Klack-Klack in seinem Kopf
reichten, wenn er die Kamera vors Auge setzte und den Auslöser drückte.
Dieselben zwei Sekunden, die Karls Leben verzerrt hatten, seit sein Bruder
verschwunden war, trieben ihn jetzt durch die Straßen, mit der kleinen Kamera,
die er durch Évi günstiger bekommen hatte und die Karl in die aufgesetzte
Tasche seiner grünen Lederjacke stecken konnte. Übers Kopfsteinpflaster der
schmalen Wege lief er zum Neckar hinunter, zur Alten Brücke, wo er zum Schloss
sehen konnte, jedes Mal, wenn er sich umdrehte und aufs Wasser schaute, als
könne er Ben dort entdecken, wo die Wellen ans Ufer schlugen und das blasse
Licht weniger Laternen spiegelten. Er ging schnell, auch wenn Aja und ich dabei
waren, schneller als wir, wenn er sich umschaute, als suche er immerzu nach
Beweisen und sammle deshalb all diese Aufnahmen, aus denen er später winzige
Ausschnitte so lange vergrößerte, bis für uns nichts mehr darin zu erkennen
war. Er und Aja nahmen die Welt auf ihre Weise auseinander und setzten sie nach
ihrer eigenen Vorstellung wieder zusammen, Aja mit Formeln und Ziffern, mit
denen sie den menschlichen Körper wie unter einer Lupe absuchte, und Karl,
indem er seine Umgebung in Stücke teilte, passend zu den zwei Sekunden, die
seinem Kopf die Zeitvorgaben und seinen Lebenstakt schlugen, als könne er noch
immer Hinweise auf seinen Bruder finden, die Fetzen der Welt aneinanderreihen
und so ihre Lücken schließen.
Außer Aja und mir ließ Karl kaum
jemanden in sein Leben, anders als Aja, die alle in ihr Leben ließ, sie
brauchten nur leise anzuklopfen. Sie und Karl waren sich in vielen Dingen einig,
und manchmal war mir, als teilten sie Geheimnisse, als rückten sie näher
zusammen und vergrößerten den Abstand zu mir. Vieles kümmerte sie nicht, und
wenn es nur der fallende Regen war, in dem sie ohne Schirm standen und redeten
und nicht merkten, wenn sie nass wurden. Sie wurden komisch in ihren
Gewohnheiten, Karl fing an, die Wettervorhersagen im Radio aufzunehmen und am Abend
zu prüfen, ob sie eingetroffen waren, als brauche er sogar fürs Wetter einen
Beweis. Aja begann, in Gedanken ihr Beileid auszudrücken und Gespräche
durchzuspielen, die sie glaubte, irgendwann führen zu müssen. Sie suchte die
richtigen Worte und legte sie in eine Windung, in eine Kammer ihres
Hinterkopfes, verwarf sie und stellte sie um, wann immer sie zwei freie Minuten
hatte, um irgendwann das eine Gespräch führen zu können, in dem alles stimmen
würde, als laufe der Tod auf gleicher Höhe neben ihr und sie müsse vorbereitet
sein, wenn es ihm gelingen sollte, sie zu überholen. Sie fragte mich, was
Zuspruch auf Spanisch und Französisch heiße, wie man in diesen Sprachen Trost
und Trauer ausdrücke, um es irgendwann einmal selbst sagen zu können, als
müsse sie es auch in den Sprachen sagen können, die ich weit genug entfernt vom
Leichenkeller zu übersetzen lernte, als müsse sie all das lange vorbereiten.
Trotzdem blieb ihr Blick auf den Tod nüchtern, schon weil er im
Kreiskrankenhaus in Kirchblüt ständig auf den Fluren lauerte, wie sie sagte,
anders als bei Karl und mir, die er zu früh umkreist und nicht mehr
freigelassen hatte, und wenn sich Karl über den Tod beschwerte, als sei er
etwas, über das man Beschwerde führen könne, sagte Aja bloß, hör auf mit diesem
Todgerede. Karl und ich kannten den Tod, seit mein Vater mich nur noch als
Erzählung umgab, seit Ben in zwei Sekunden aus Karls Leben verschwunden war,
und deshalb schreckte uns der Gedanke auch nicht, eines Tages selbst nicht mehr
da zu sein, wenn wir über Friedhöfe spazierten und nach Gräbern schauten, und
so wie wir gerade begonnen hatten, einen Ort zum Leben zu suchen, suchten wir
einen zum Sterben.
Karl hatte vor Jahren schon
angefangen, im Fotoladen zu arbeiten, nicht wegen des Geldes, das er jederzeit
von seinen Eltern bekam, sondern weil er alles hatte lernen wollen, was er in
Kirchblüt übers Fotografieren lernen konnte. Als er schnell eine stärkere
Brille gebraucht hatte, deren dunkle Ränder auf seinen Wangen saßen, hatte Évi
den Kopf geschüttelt und geschimpft, die viele Arbeit im Labor sei schuld
daran, das lange Starren auf Bilder, die unter dem roten Licht nur langsam
scharf wurden und zu zögerlich ihre Umrisse zeigten.
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