Bank, Zsuzsa
wie Aja es nicht habe merken können, wieso sie überhaupt
Ärztin sei, wenn ihr das nicht aufgefallen sei, und wie zum Trotz sagte ich,
sie hatte eben nur Augen für dich, und einen Moment blieb es still zwischen
uns. Ob ich denn nichts bemerkt habe, als Évis Stützkissen wie ein Krake auf
ihren Schultern gesessen hatte, und ich wusste nichts darauf zu sagen, weil
mich das Kissen auf Évis Schultern nicht gestört hatte. Erst jetzt, da Karl
davon sprach, als sei es ein Vorbote, als sei es eine Warnung gewesen, die wir
alle hätten verstehen müssen, fing es an, sich in meiner Erinnerung zu
verändern, als könne auch ich plötzlich eine Drohung darin erkennen.
Niemand hätte Aja von den Dingen
erzählen müssen, die Évi vergaß, von den Kuchen, die nicht mehr schmeckten, von
dem Geld, das Karls Vater ihr für Bestellungen gab, die er sich nur noch
ausdachte und auf die Leiste an Évis Küchenwand spießte. Seit einer Weile
hatte sie diese Ahnung, so wie sie von vielen Dingen eine Ahnung haben konnte,
nicht nur vom Schnee, den sie spürte, bevor die Wolken ihn nachts loslassen und
zur Erde schicken würden. Etwas hatte sich in Évis Leben geschlichen, so viel
wussten wir, es sickerte in ihre Tage und breitete sich darin aus, wie das
Harz, das hinter dem Bahnwärterhäuschen aus den Tannen trat und zäh über die
Rinden tropfte. Aja sagte, es sei ein zögernder, ein stiller Anfang von dem,
was sich in den nächsten Jahren auf Évi legen würde, und sie war wütend, weil Évi
jetzt schon damit anfangen müsse, wie sie sagte, wo sie vielleicht gar nicht
nach Kirchblüt habe zurückkehren und schon gar nicht Évis Ärztin habe sein
wollen.
Évis Vergessen kam langsam, und
obwohl wir auf alles schauten und achtgaben, fiel uns lange nichts auf, was sie
nicht schon früher getan oder gesagt hätte. Sie schlief in der Küche ein, ihr
Kopf neben einer Tasse Tee auf der Tischplatte, die wirren Locken zwischen
Nadel und Faden, die sie aus dem Kästchen genommen hatte, und ging ins Bett,
wenn das erste Lärmen der Vögel sie geweckt oder meine Mutter am Morgen an die
Scheiben geklopft hatte. An kalten Tagen trug sie die offenen Schuhe mit den
Holzabsätzen zu Schal und Mütze, und auf dem Markt fragte sie im September
nach Erdbeeren, als habe sie beschlossen, auch die Jahreszeiten zu vergessen.
Sie nahm das Kästchen aus Blech wieder öfter vom Regal und strich über Bens Murmeln,
ganze Abende konnte sie damit verbringen, sie aneinanderzustoßen, mit dem
Klack-Klack, das sich in Karls Kopf ausgebreitet hatte, wegen Aja verschwunden
und wegen ihr zurückgekehrt war, und sie legte das Kästchen erst weg, sobald
Aja das schiefhängende Tor beim Öffnen durch den Staub schob, das Fliegengitter
löste und die Schuhe abstreifte. Wenn es schneite, saß Évi draußen unter ihrem
Küchenfenster auf der Bank, die Karls Vater jeden Frühling ölte und mit neuen
Schrauben versah, hielt die flachen Hände hoch, als wolle sie die Flocken
abwehren, damit sie sich nicht aufs Dach und die Regenrinne setzten. Manchmal
schaute Évi nach dem Fotoladen bei meiner Mutter vorbei, und wenn sie das
Schlagen der Tennisbälle hörte, die sich mit der Wäsche im Trockner drehten,
sagte sie, es klinge, als poche darin ein großes lautes Herz.
Aja und ich bestanden unsere
letzten Prüfungen, und obwohl noch Jahre vor ihr lagen, bis sie sich Frau
Doktor würde nennen dürfen, sagte man es rund um den großen Platz schon zu ihr,
wenn sie am Wochenende kam und für Évi auf dem Markt einkaufte. Nichts hätte
mich in dieser Zeit an einen anderen Ort, weg von Aja ziehen können, einmal
nur dachte ich daran, nach Rom zu fahren, um Karl zu sehen, das blasse Dreieck
über seinem Ohr, wo seine Haut in tausend Wellen lag, unsere Zimmer unterm
Dach, die blassroten Ziegel vor den Fenstern, und ich malte mir aus, den
Verästelungen der Straßen zu folgen und die Brunnen abzulaufen, die ich nachts
plätschern hören konnte, wenn in Kirchblüt alles ruhte. Im Sommer fing Aja
wieder an, im Kreiskrankenhaus zu arbeiten, obwohl sie an anderen, größeren
Kliniken hätte beginnen können. Ihr Zimmer in Heidelberg behielt sie, aber wenn
sie nachts Dienst hatte, schlief sie tags darauf bei Évi, die Aja wie früher am
Eingang abholte. Aja hatte aufgehört zu sagen, dass Évi nicht ihre Mutter sei,
und Évi dankte es ihr, an jedem neuen Tag, an dem Aja darauf verzichtete, wenn
sie vom Krankenhaus über den großen Platz und den Feldweg kam, um in Évis Küche
zu sitzen und
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