Bank, Zsuzsa
einteilten. Obwohl Karls Mutter ohne Uhr am Handgelenk ging und die
wirkliche Zeit sie nicht kümmerte, musste diese Zählung in ihren Gedanken ohne
Unterbrechung, dieser Takt ohne Unterlass mitlaufen. Zwei Sekunden, nicht
länger als das Klack-Klack in Karls Kopf, zwei Sekunden, die ausreichten, in einen
Wagen zu klettern und die Tür zu schließen, zwei Sekunden, die ausreichten,
eine Aufnahme zu machen, einen Auslöser zu drücken und loszulassen. Zwei
Sekunden, die Karls Mutter abzählte und neu zählte und dabei jedes Mal
versuchte, sie in die Länge zu ziehen, sie zu dehnen und dann anders, ganz
anders ausgehen zu lassen, sie gut ausgehen zu lassen, als könne sie Ben noch
sehen und ihm zuwinken, als könne sie noch loslaufen und ihn abhalten davon,
in ein Auto zu steigen und mitzufahren.
Wenn sie jetzt kam, um Karl
abzuholen, ließ Évi ihr Zeit, in die Küche zu gehen und das Kästchen vom Regal
zu nehmen, und weil Karls Mutter vor uns nicht zugeben wollte, dass sie
Murmeln über Évis Tisch rollen ließ und auf das Geräusch hörte, das sie dabei
machten, tat sie, als brauche sie nur ein Glas Wasser, als habe sie etwas
liegenlassen und suche in Évis Küche alles, nur kein zitronengelbes Kästchen
aus Blech, in dem früher kleine Tafeln Schokolade gelegen hatten, die Karl und
sein Bruder aus bunten, glänzenden Papieren gewickelt und auf ihre Zungen
gelegt hatten. Wir alle taten so, obwohl wir das leise Klacken hörten, wenn wir
am Fenster vorbeiliefen und unseren Blick senkten, damit wir Karls Mutter nicht
störten, wenn sie an Évis Tisch Kreise aus grünen und blauen Glasmurmeln legte.
Seit sie wusste, dass Évi ein
Kästchen für Ben aufbewahrte, schien sie Karl lieber bei ihr zu lassen, als
ließe sie etwas glauben, Karl könne seinem Bruder nirgendwo näher sein als
hier, näher jedenfalls als in ihrem eigenen Haus, in dem die Dunkelheit in
jedes Zimmer gekrochen war, und näher als im Haus seines Vaters, an dem sich
die Rosen hoch zum Dach rankten und anfingen, Stein um Stein zuzudecken.
Vielleicht lag es an Évis Garten, auf den ein helleres Licht fiel als auf
andere Gärten, vielleicht an Évis Stimme, an diesem Summen, das Évi umgab,
wenn sie über Blüten strich, wenn sie ein Glas mit Wasser aus dem Hahn füllte
und auf den Tisch stellte, neben eines ihrer Taschentücher mit den Stickrosen,
wenn sie wusste, dass Karls Mutter kommen würde, sie würde im Haus
verschwinden und unter dem schiefen Fenster, vor der Spüle mit schmutzigem Geschirr
sitzen, ein Kästchen aus Blech in den Händen halten und die Murmeln darin
anschauen, während Évi schon das Herbstlaub zusammenkehrte und bald die ersten
Eiszapfen von der Regenrinne schlagen würde. Bis zum Neujahrstag blieb es so,
als Aja und ich Reste von Blei aus einer Schüssel fischten und Karls Mutter
mitten im dichten Schneetreiben, das sie in ihrem eisblauen Mantel zerschnitt,
ein rotes Päckchen mit weißer Schleife brachte, darin acht hohe Gläser aus
Kristall, die Évi im Schrank über der Spüle verschwinden ließ, aber jede Woche
herausnahm, um sie mit einem weichen Tuch abzuwischen und vor dem Fenster gegen
das Licht zu halten.
Ostern
Évi mochte den Winter nicht, und
wenn er kam, mit Eis und Schnee, setzte sie alles daran, ihn nicht zu beachten,
seine nassen, dunklen Tage zu übergehen, wenn die Scheiben beschlugen und sie
Küchentücher in die Rahmen steckte, damit Wind und Regen draußen blieben. Erst
wenn der Frost seine Spuren zeichnete und die Fenster nicht mehr freigab, hörte
sie auf, den Winter zu leugnen, wenn sie auch im Haus die fingerlosen Handschuhe
trug und Aja nicht länger in ihrem Zimmer schlief, weil ihr Atem in der kalten
Luft zu sehen und ihr Kopfkissen klamm geworden war. Dann ließ sie Aja neben
sich auf der Liege schlafen und erzählte ihr jeden Abend dieselbe Geschichte,
die Aja später Karl und mir erzählte, vom Frühling, der einen großen Hut mit
flatternden gelben Bändern trägt und anklopft, um einen müden Winter abzulösen
und über Nacht Frost und Schnee und Eisblumen zu vertreiben. Évi suchte die
dunklen Monate zu verkürzen, die Zeit allein durchs Erzählen zu beschleunigen,
während sie Aja mit allen Decken und Tüchern zudeckte, die sie finden konnte,
und sich zum Schlafen neben sie legte, ohne die fingerlosen Handschuhe
abzuziehen. Bevor Aja aufwachte, stieg Évi aus dem Bett, wischte mit dem
Handrücken über die Glastür und suchte den Himmel nach einem Zeichen des
Frühlings ab, wie sie
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