Bank, Zsuzsa
bringen und schnell weiterzufahren,
um sich nicht zu verspäten. Wenn sie etwas hätte ahnen können, hätte sie ihn
nicht gehen, ihn nicht aus den Augen gelassen, sie wäre ihm gefolgt und hätte
seine Hand festgehalten, die er ihr seit einer Weile nicht mehr hatte geben
wollen, weil er sich für zu groß hielt, um noch an der Hand seiner Mutter zu
gehen. Über jeden seiner Schritte hätte sie gewacht, wenn sie gewusst hätte,
dass ihr nichts bleiben würde als die Angst, seinen Geruch zu vergessen, die
Züge seines Gesichts, ihr würde nichts bleiben als die Bilder, die gerahmt im
ganzen Haus hingen und auf den Schränken standen.
Am liebsten, sagte Karls Mutter,
würde sie sich wegdrehen und ihr Leben liegenlassen wie einen abgetragenen
Mantel. Nach den hellen Tagen sehne sie sich, mit denen alles angefangen habe,
jetzt, da sich etwas in ihr Leben gedrängt hatte und sich als schwarze Farbe
durch alle Zimmer ihres Hauses fresse, sich vor ihre Augen schiebe, vor ihr
Gesicht im Spiegel und vor ihren Blick auf Karl. Alles habe damals gut
angefangen, sagte sie, mit hellen Tagen, nichts als hellen Tagen, und obwohl
alle gemahnt hätten, sie sei zu jung, habe sie Karl bekommen, so jung, dass sie
noch heute manchmal nicht für seine Mutter, sondern für seine Schwester gehalten
würde. Sie hätten Karl nachts nicht allein lassen wollen, und so habe er in
den ersten Monaten zwischen ihnen im großen Bett geschlafen, auf einem weißen
Kissen in der Mitte, damit er nicht herausfallen würde. Sie hätten keine Angst
haben müssen, sich im Schlaf auf ihn zu drehen und ihm die Luft zu nehmen, und
wenn sie morgens aufgewacht seien, habe Karl noch immer so dagelegen wie am
Abend. Zwölf Monate nach Karls Geburt kam sein Bruder zur Welt, an einem
wolkenlosen Tag im Januar, der dicht an dicht Ranken aus Eisblumen auf die Fenster
setzte und den Himmel am Morgen hellrot färbte, als die anderen noch schliefen
und Karls Mutter hinausschaute auf die leeren Straßen, den Rauch der
Schornsteine über den Dächern, der langsamer als sonst zu steigen schien, und
wusste, es war so weit, sie müssten Karl zu den Nachbarn bringen und losfahren,
mit der kleinen Tasche, die sie vor Wochen schon gepackt hatte, als sie ihren
Mantel nicht mehr hatte zuknöpfen können und ihr schon das Sitzen und Atmen zu
viel geworden waren.
Nur wenige Stunden nach der Geburt
ließen sie den Pfarrer aus der Krankenhauskapelle holen, um Karls Bruder zu
taufen, hastig und benommen und ohne Paten. Die Hebamme hatte es den Eltern
geraten, ihr hatte der Blick des Arztes gereicht, als er die kleine Brust, ihre
Herztöne abgehört hatte, und der scharfe, gehetzte Ton in seiner Stimme, als
er die Schwestern zusammenrief. Als sie Karls Bruder hinausbrachten, hatte
seine Mutter nicht gewusst, an wen sie sich wenden, zu wem sie reden sollte,
denn obwohl sie ihr Kind hatte taufen lassen, glaubte sie an keinen Gott und
konnte zu keinem beten. Aber sie war nicht wie Karls Vater auf und ab
gelaufen, vor den großen Fenstern auf dem Gang, sie hatte stattdessen ihren
Blick auf ein Holzkreuz über der Tür gerichtet und sich festgehalten daran,
weil es sonst nichts gab, weil sie sonst nichts fand, an dem sie sich hätte
festhalten können. Als sie wieder zu Hause war und man ihr sagte: Du hast das
Schlimmste schon hinter dir, fiel es ihr schwer, daran zu glauben, weil sie den
hellen Tagen, die zurückkehrten, nicht trauen konnte, aus Angst, noch getäuscht
zu werden - nicht dem Frühling, der jenen Winter ablöste und den Himmel über
den Dächern am Morgen wieder blau und nicht mehr rot färbte, nicht den zwei
schrägen Narben, die ein langes Kreuz auf die kleine Brust zeichneten, sich
Jahr um Jahr zusammenzogen und blasser wurden und die Karls Bruder später, als
er seine Hemden schon selbst aufknöpfen konnte, jedem zeigte, der sie sehen
wollte.
Seit er begonnen hatte, seine
ersten Sätze zu sagen, konnte er auch schon erklären, warum dieses Kreuz auf
seiner Brust lag. Sein Vater erzählte es ihm abends, wenn er einen Stuhl ans
Bett heranzog, sich zu ihm setzte, die Beine übereinanderschlug, die Hände in
den Schoß legte, und Karls Bruder niemals genug davon hören konnte, vom Blick
des Arztes, von den schnellen, leisen Schritten der Schwestern und vom
Pfarrer, nach dem sie gerufen hatten und der ins Zimmer am Ende des Ganges
gekommen war, um ihn auf den Namen Benedikt zu taufen, den so nur seine Mutter
zu ihm sagen würde. Sobald der letzte Satz verklungen war, wollte
Weitere Kostenlose Bücher