Bankgeheimnisse
Schrammen und Prellungen heilten innerhalb der ersten Woche, und auch die Blutungen hörten nach wenigen Tagen auf. Dennoch unternahm sie keinerlei Anstrengungen, sich wieder in Form zu bringen. Sie stand nur auf, um zur Toilette zu gehen. Am Morgen des zweiten Tages duschte sie. Sie stand über eine Stunde lang unter dem dampfend heißen Wasserstrahl, bis Gina schließlich an die Tür des Badezimmers hämmerte und ihr befahl, sofort herauszukommen. Erst als Gina in ihrer Verzweiflung soweit war, ihren Bruder anzurufen, damit er käme, um die Tür aufzubrechen, kam Johanna aus dem Badezimmer und kehrte wortlos in ihr Bett zurück. Ihr Gesicht, vom heißen Wasser gerötet, war binnen Minuten wieder so bleich gewesen wie zuvor. Sie starrte durch Gina hindurch und ignorierte deren Bemühungen, ihr Trost zu spenden. Gina erzählte mit weicher Stimme in gebrochenem, mit Englisch und Italienisch durchsetztem Deutsch von ihrer Jugend. Sie saß auf der Bettkante und hielt Johannas Hand, wenn sie so zu ihr redete. Mit der freien Hand gestikulierte sie, wie es ihre Art war, oder sie streichelte zögernd den Arm oder die Schulter der jungen Frau, so als könne die körperliche Berührung eher eine Bresche in die Erstarrung schlagen als Worte. Die Italienerin zeichnete das schwermütige Bild einer stillen jungen Frau, deren einziger Lebensinhalt ihr jüngerer Bruder war. Sie ließ den schwarzgelockten Jungen wieder lebendig werden, der barfüßig in den Docks von Neapel herumlief und Gelegenheitsjobs suchte, der, braungebrannt wie ein Stück Holz, in der Sonne hockte und Netze flickte, während sie für Frauen, die in der benachbarten Fischfabrik arbeiteten, die Wäsche wusch oder in Restaurantküchen aushalf. Sie erzählte von dem zornigen jungen Mann, der seine Heimatstadt verließ und sich mit verbissenem Ehrgeiz daranmachte, in der Fremde eine neue Existenz zu gründen. Johanna lag mit geschlossenen Augen da und ließ keinerlei Anzeichen von Interesse erkennen.
Gina übertraf sich selbst in ihren Kochkünsten, aber Johanna rührte das liebevoll zubereitete Essen nicht an, so daß die Italienerin sich schließlich genötigt sah, die junge Frau wie ein Kind zu füttern. Johanna ließ es mit regloser Widerwilligkeit über sich ergehen. Sie kaute und schluckte mechanisch, und wenn sie schließlich genug hatte und den Kopf zur Seite wandte, war der Teller meist noch halb voll.
Fabio kam jeden Abend zwischen elf und halb zwölf und sah nach ihr. In dieser Zeit saß er schweigsam neben ihrem Bett, während sie schlief.
Er bemühte sich eisern, seinen Tagesablauf mit gewohnter Routine zu gestalten, um keinerlei Argwohn hervorzurufen. Wie immer stand er morgens zwischen fünf und sechs Uhr auf und arbeitete bis nachts um elf. Die Anekdoten, mit denen er seine Gäste unterhielt, klangen in seinen Ohren albern und aufgesetzt, und er fürchtete jeden Tag mehr, daß es sich für die anderen ebenso anhörte. Mit wachsender Ungeduld wartete er Abend für Abend darauf, daß die Tische des Forchetta sich leerten, damit er endlich, ohne Verdacht zu erregen, aufbrechen konnte. Manchmal argwöhnte er, daß Carlo ihm etwas anmerkte, doch wenn es so war, ließ der Sizilianer jedenfalls nichts davon erkennen. Wie stets war er von beflissener, stiller Höflichkeit. Nach einer Woche beschloß Fabio, ihn einzuweihen. Carlo nahm es mit stoischem Gleichmut auf, ohne Fragen zu stellen.
Als Ginas Urlaub sich dem Ende näherte, rief sie Ernesto an und behauptete, Fabio sei krank und bedürfe ihrer Hilfe. Als sie Fabio anschließend die Grüße ihres Mannes übermittelte, nahm Fabio es kommentarlos zur Kenntnis.
Ende Oktober forderte Gina Fabio auf, noch dazubleiben und mit ihr zu reden, nachdem er wie üblich eine halbe Stunde in düsterem Schweigen neben Johannas Bett verbracht hatte.
Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer. Fabio bediente sich aus den Alkoholvorräten seines Freundes und goß sich einen Fingerbreit Wodka ein, den er mit Tonic verdünnte. Gina schüttelte den Kopf, als er ihr auch etwas anbot.
»Fabio, du mußt etwas tun. So geht das nicht weiter.«
»Ich habe schon etwas getan. Ich habe ein Apartment gemietet, ein paar Straßen von hier, genauso unauffällig wie dieses. Übermorgen können wir sie hinbringen.«
»Das meine ich nicht, und du weißt es.«
»Ja, ich weiß«, sagte er müde. Während er sich in einen Sessel setzte, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, und Gina sah das schwache Zittern seiner Finger.
Ihr Blick
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