Bankgeheimnisse
sich in den Passantenstrom, der die benachbarte Einkaufsstraße bevölkerte. Sie blickte nicht zurück. Irgend etwas befahl ihr, weiterzulaufen, gleichmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vielleicht war es der Anblick des Bullen. Der Bulle war Leos Symbol gewesen. Immer aufspringen, egal, wie schnell der Zug fährt, egal, wohin. Kaufen, wenn die Kurse fallen. Buy on bad news.
Sie taumelte durch den Eingang eines Kaufhauses und tauchte in den warmen Luftstrom wie in eine nachgiebige lebendige Masse. Dort, wo die wärmere Luft wie ein Vorhang die Kälte draußen hielt, hockte zusammengesunken ein Penner. Das Kaufhauspersonal war angehalten, Herumlungern zu unterbinden, doch von Zeit zu Zeit verirrte sich trotzdem ein Obdachloser von der kälteren B-Ebene hierher. Sie kamen vor allem an Tagen wie diesem, Tage, die so kalt waren, daß kein Schnaps mehr warmhielt. Wie durch die kurze Blende einer Kamera sah Johanna die Worte, die auf dem Pappschild zu seinen Füßen standen. Ein Mensch in Not.
Johanna bahnte sich ihren Weg an lebensgroßen Rauschgoldengeln vorbei, die wie lächelnde Wächter Stände mit Christbaumschmuck flankierten. Empörte Aufschreie von Kunden signalisierten ihr, daß Jorge ihr auf den Fersen war. Sie schaute über die Schulter. Er kämpfte sich rücksichtslos durch eine Menschentraube vor den Rolltreppen, die nach unten führten, dann blieb er unvermittelt stehen. Am Hin- und Herwenden seines Kopfes sah sie, daß er sie aus den Augen verloren hatte. Seine Hände waren frei. Er hatte die Waffe weggesteckt. Seine Risikobereitschaft schien Grenzen zu haben.
Johanna schob sich hinter einen Ständer mit Krippenfiguren. Sie duckte sich, bis sie sich in Augenhöhe mit einer holzgeschnitzten Menagerie von Eseln und Rindern befand, die zwischen vergoldetem Heu aufgebaut waren. Dann schlich sie weiter, hinter den nächsten Stand, den übernächsten. Hinter einem Regal mit weihnachtlich bedruckten Grußkarten verharrte sie eine halbe Minute lang, während der ihr bewußt wurde, daß sie schweißüberströmt war. Ihre Kopfhaut juckte unerträglich unter der Perücke. Ihre Rippen schmerzten so sehr, daß sie sich zwingen mußte, nicht zu stöhnen. Sie atmete hechelnd und preßte die Hände in die Seiten. Ihre Handtasche hing an ihrem linken Handgelenk; die Schnur hatte sich verknotet und schnitt in ihre Haut, und das Leder war durchnäßt vom hochgespritztem Schneematsch. Johanna wurde die Ironie bewußt, die dieses biedere, arg mitgenommene Utensil ausdrückte. Mehr als einmal hatte sie in akuter Lebensgefahr geschwebt, aber niemals ihre Tasche losgelassen. Fast hätte sie hysterisch aufgelacht, als sie an eine Schlagzeile denken mußte, wie: Frau läßt eher ihr Leben als ihre Handtasche.
Sie hob den Kopf zentimeterweise über den oberen Rand des Standes. Jorge war nirgends zu sehen. Sie riskierte es. Mit raschen Schritten lief sie, immer noch gebückt, zu den aufwärts fahrenden Rolltreppen hinüber. Sie sprang auf die Treppe und begann sofort, sich an den darauf stehenden Leuten vorbeizudrängen.
Er stand oben am Ende der Treppe und erwartete sie, die rechte Hand unter der linken Achsel. Johanna drehte sich augenblicklich um, schob die hinter ihr stehende alte Frau zur Seite und sprang entgegen der Laufrichtung von Stufe zu Stufe abwärts. Ein Pulk kichernder Teenager versperrte ihr den Weg. Sie verschwendete kostbare Sekunden, in denen sie sich nicht rührte, weil sie die irre Vision hatte, daß er es irgendwie schaffen würde, vor ihr da zu sein. Er würde die Rolltreppe nach unten nehmen und sie dort erwarten. Sein böses silbernes Auge würde sie anfunkeln, und er würde höhnisch grinsend sagen: »Bin schon da.«
Johanna spürte, wie sie in einen eigentümlichen Geisteszustand hinüberglitt. Eine fast heitere Trance erfaßte sie. Es spielte nicht die geringste Rolle, ob sie nach oben oder unten fuhr. Sie hatte die freie Wahl, sie konnte sich abstrampeln oder ruhig stehenbleiben. Es war wie bei Hase und Igel. Ein großes, lustiges Spiel. Wer war vorher da?
Aus den überall angebrachten Lautsprechern dudelte Weihnachtsmusik, die verzerrt und überlaut in ihre Ohren stach. Irgendwann merkte sie, daß sie auf festem, unbeweglichem Boden stand. Er war nicht da. Diese Runde war an den Hasen gegangen. Sie trat sofort auf die nächste Treppe abwärts, die ins Untergeschoß führte. Während sie von Stufe zu Stufe sprang, wuchs in ihr das Gefühl, daß sie es schaffen konnte, wenn sie nur
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