Bankgeheimnisse
durchhielte. Sie erreichte das Ende der Treppe und rannte weiter, zwischen Ständen mit Porzellan und Töpfen hindurch. Ein Blick zurück überzeugte sie davon, daß er nirgends zu sehen war. Als sie den Ausgang des Untergeschosses erreichte, hörte sie zwei, drei schrille Unmutsrufe von der Rolltreppe, und sie wußte, daß er ihr immer noch folgte. Dann war sie draußen in der stickigen B-Ebene, die sich weiträumig unter den Straßen und Plätzen der Innenstadt erstreckte. Der vibrierende Lärm der U-Bahn aus den tiefer gelegenen Geschossen drang dumpf nach oben. Menschen hasteten mit Tüten und Koffern durch die gepflasterte Halle, wie geschäftige Ameisen, die ihre Beute heimbrachten. Sie standen in Pulks vor den Fahrkartenautomaten und drängten sich auf den Rolltreppen nach unten. Johanna machte nicht den Versuch, sich an ihnen vorbeizuschieben. Mit dem sicheren Instinkt eines gejagten Tiers nahm sie die kaum benutzte, normale Treppe, die hinab in den U-Bahn-Schacht führte. Er war dicht hinter ihr, sie fühlte es, ohne sich umsehen. Sie setzte alles aufs Spiel, sie jagte hinunter, übersprang erst zwei, dann drei und schließlich vier Stufen auf einmal. Sie wunderte sich flüchtig, daß sie nicht stürzte. Ein weiterer gewonnener Punkt in dem großen Spiel. Jetzt glaubte sie fast, seinen Atem im Genick zu spüren. Gleich würde der kalte Stahl der Pistole sich in ihren Nacken bohren. Ihre Finger rasten über das Geländer, Hitze sengte ihre Handfläche. Beim letzten Sprung löste sich die große Sonnenbrille und fiel auf den Bahnsteig. Johanna setzte darüber hinweg. Der Atem drang in kurzen keuchenden Stößen aus ihrem Mund.
Auf den Gleisen stand ein Zug, abfahrbereit, die Türen noch offen. Die letzten Fahrgäste stiegen ein. Johanna erreichte eine der Türen, in derselben Sekunde, als sie zischend zuglitt. Sie sprang in den Wagen, klammerte sich an der Haltestange fest und schwang zur Tür herum. Jorges schaufelartige Pranke knallte gegen die Gummidichtung, dann gegen die Scheibe; sein helleres Auge glitzerte silbrig im Neonlicht der U-Bahn-Station. Johanna wich zurück, starrte in das Auge. Der Zug fuhr langsam an. Jorge rannte neben dem Wagen her, die Faust donnerte wieder und wieder gegen die Scheibe. Dann verschwand sein Gesicht, und vor der Glasscheibe waren nur noch die vorbeizuckenden Rechtecke der Tunnelkachelung zu erkennen.
Johanna drehte sich um, wankte durch den Gang und ließ sich auf einen der wenigen freien Sitze fallen. Der Wagen war fast voll. Zwei oder drei der Fahrgäste brachten schwaches Interesse für den Vorfall auf. Sie musterten die bleiche, aufgelöst wirkende junge Frau sekundenlang, dann erlahmte ihre Neugier. Die anderen ließen keine Reaktion erkennen. Sie starrten unbeteiligt aus den Fenstern ins Dunkel des Tunnels. Johanna zog die Beine hoch und umklammerte ihre Knie. Ihr Gesicht war naß. Sie wiegte sich vor und zurück, immer wieder, mit der Gleichförmigkeit eines Metronoms. Die Leute um sie herum registrierten es, aber niemand rührte sich. In Frankfurt hatte jeder seine eigenen Probleme.
Sie stand unter der Dusche, das heiße Wasser bis zum Anschlag aufgedreht. Es prasselte auf sie herunter, betäubte ihre Lider, ihre Wangen, ihre Lippen. Johanna fühlte das absurde Bedürfnis, bis ans Ende der Zeit unter dem harten Wasserstrahl stehen zu bleiben. Dampf quoll über die Trennwand und nebelte den kleinen Raum ein, tropfte als Kondenswasser an dem Spiegel und den Kacheln herab, schlug sich perlend auf dem Holz der Tür und dem Fußboden nieder.
Es klopfte. Fabios Stimme schallte durch den Dunst aus Hitze und Wasser. »Wenn du in zwei Minuten nicht draußen bist, hole ich dich.«
Sie legte die Hand an die Armatur und beobachtete, wie ihre Finger den Hahn zudrehten, als seien sie von eigenem Willen belebt. Mit geschlossenen Augen stieg sie aus der Duschwanne. Tropfnaß stand sie vor dem beschlagenen Spiegel, ohne etwas anderes wahrzunehmen als ihren Körper und die Wärme, die von ihm ausging. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch. Er war flach und glatt und heiß. Ihr Gesicht. Es brannte unter ihren Fingerspitzen. Ihre Brüste. Warme, runde Hügel. Die leichte Schwere während der Schwangerschaft war zurückgegangen. Johannas Hände rutschten über ihre nasse Haut tiefer, blieben reglos auf den Rippenbögen liegen, wo sie die sanfte, regelmäßige Bewegung ihres Zwerchfells wahrnahm. Sie fühlte weder Schmerz noch Angst, nur einen unstillbaren Hunger, eine fast
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