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Bankgeheimnisse

Bankgeheimnisse

Titel: Bankgeheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Sievers
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sah das Zucken seiner Hand, seinen unwilligen Gesichtsausdruck. Wiking stand ungünstig. Die Schußlinie war nicht frei. Jorge trat einen Schritt zur Seite, um seinen Schußwinkel zu verbessern. Er würde sie nicht verfehlen, er stand weniger als zehn Meter von ihr entfernt. Johanna starrte in die schwarze Mündung des Schalldämpfers, einen endlosen Augenblick lang, so lange, wie ihr Überlebensinstinkt brauchte, um die Reflexe ihres Körpers auszulösen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie es unmöglich schaffen konnte, doch ihre Muskeln und Sehnen gehorchten anderen Gesetzen. Sie sprang vorwärts, genau in der Sekunde, als knirschend ein Stück aus dem Beton hinter ihr wegplatzte. Ein weiterer Schritt, und Wiking befand sich wieder zwischen ihr und Jorge. Wiking bemerkte es und wich zur Seite. Gleichzeitig griff der andere Mann in seine offene Jacke. Johanna verlor keine Zeit mit Spekulationen darüber, was als nächstes passieren würde. Sie folgte dem neuen Befehl, den ihr Körper ihr gab. Sie drehte sich um, setzte über den Schneewall am Bordsteinrand und rannte auf die Straße. Ein Wagen bremste mit kreischenden Reifen dicht vor ihr, dann war sie in der Mitte der Fahrbahn. Sie schaute nicht zurück, aber hinter sich hörte sie erneut quietschende Bremsen, ein Beweis dafür, daß sie ihr folgten. Der Schneematsch spritzte um ihre Beine, als sie die andere Straßenseite erreichte. Ein dünnes Surren zerschnitt die Luft neben ihrem rechten Ohr, und sie wußte, daß auf sie geschossen worden war.
    »Sie entkommt euch, ihr Idioten«, hörte sie entfernt Wikings Stimme. Sie steuerte in vollem Lauf auf die Grünanlagen zu. Vier, fünf Passanten, die sie vorhin nicht gesehen hatte, standen in einem lockeren Kreis beisammen, vertieft in ein lebhaftes Gespräch. Banker oder Versicherungsleute, die irgendwo in der Nähe zu Mittag gegessen hatten. Johanna rannte an ihnen vorbei, stieß einen der teuer gekleideten Männer zur Seite. Er strauchelte, richtete sich auf und starrte sprachlos der fliehenden Frau nach. Wortfetzen flogen in der Gruppe hin und her, als ein Mann, ebenso schnell wie die Frau, mit ausgreifenden Schritten und pfeifendem Atem vorüberlief und der Frau in Richtung Fußgängerzone folgte. Johanna ging rasch die Luft aus. Ein Stechen zerriß ihre Seite, sie keuchte mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft, und doch gelang es ihr nicht, ausreichend Luft in die Lungen zu ziehen. Sie spürte, daß es vorbei war. Ihre Kräfte waren durch das Leid der vergangenen Wochen aufgebraucht; ihr Körper war so zermürbt und ausgebrannt wie ihre Seele. Während sie rannte, verdichtete sich ihre Resignation, wurde zu Blei in ihren Gliedern. Es war so leicht. Einfach stehenbleiben und aufgeben. Alles wäre in Sekundenschnelle vorbei. Keine Schmerzen mehr. Keine Angst. Kein Weglaufen.
    Ein zweites Geschoß zischte an ihr vorbei, diesmal um wenige Zentimeter ihren Hals verfehlend. Jorge ging kein Risiko ein. Er wollte nicht verletzen, sondern töten. Er zielte auf ihren Kopf. Dabei war es ihm offenbar gleichgültig, daß er Aufsehen erregte. Zwei mit Einkaufstüten beladene Frauen, die Johanna entgegenkamen, blieben stehen und starrten mit unverhohlenem Entsetzen den Mann mit der dunklen Brille an, der mit gezückter Pistole die dunkelhaarige junge Frau verfolgte. Er schoß erneut, diesmal weithin hörbar. Johanna begriff, daß der Schalldämpfer sich abnützte. Ihr wurde klar, daß dieser Mann sie einholen und stellen würde, egal, wer ihm alles dabei zusah und wieviel Krach es verursachte. Niemand würde es verhindern. Er würde sie einholen und niederschießen. Und dann einfach verschwinden und untertauchen. Solange er die Brille nicht abnahm, sah er wie zehntausend andere Männer aus, die jeden Tag in Frankfurt ihren Geschäften nachgingen. Sie lief weiter in Richtung Hauptwache. Am Rand des Goetheplatzes drehte sie sich kurz um. Jorge war zwanzig Meter hinter ihr. Johannas Lungen brannten, als sie ihre Beine zwang, sich schneller zu bewegen. Gesichter tanzten als verschwommene, helle Flecken rechts und links an ihr vorbei. Gerüche trafen scharf ihre Nase. Abgase, Weihnachtsgewürze, Schweiß, Parfüm.
    Die Säulenhalle der Börse tauchte vor ihr auf, davor Bulle und Bär, in Bronze erstarrte Fabelwesen aus der Welt des großen Geldes. Der nächste Schuß zog eine warme Spur über ihre Schulter und wurde mit einem kreischenden Geräusch von einer der Bronzefiguren als Querschläger in den Himmel gelenkt. Johanna drängte

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