Bankgeheimnisse
abermals, bevor sie sich durch den dichter werdenden Schneefall von den beiden Italienern entfernte.
Fabio und Carlo blickten ihr nach, bis die Umrisse ihrer schlanken Gestalt sich im Schneetreiben auflösten. Fabio schob seinen Jackenärmel vom Handgelenk und schaute auf die Uhr. »Ab jetzt zehn Minuten. Komm, wir halten uns in Bewegung, sonst frieren wir fest.«
Johanna erreichte zwei Minuten später das Parkhaus. Sie schob die Parkkarte in den Kassenautomaten und warf Kleingeld ein. Sie verlor eine Minute, weil der Aufzug nicht kam. Als sie merkte, daß er außer Betrieb war, fluchte sie. Sie nahm die Treppe und keuchte atemlos, als sie den Wagen im dritten Stock erreichte. Es war ein kleinerer BMW, nachtblau, das gleiche Modell wie ihr eigener Wagen. Sie verlor eine weitere Minute, weil sie beim Anlassen nervös war und zuviel Gas gab. Der Motor stotterte und hustete, bis er endlich ansprang. Als der Wagen die Abwärtsspirale entlangkurvte, quietschten die Reifen. Der Schlitz am Schrankenautomaten schien zu schmal für die Karte. Johanna hatte Mühe, das Zittern ihrer Hand unter Kontrolle zu bringen und die Karte hineinzuschieben. Die Schranke hob sich sofort, und Johanna stöhnte vor Erleichterung. Während sie um den Block zur Bank fuhr, blickte sie auf ihre Armbanduhr. Noch vier Minuten, mehr Zeit, als sie brauchen würde. Kein Grund, Panik aufkommen zu lassen. Bevor sie den BMW die Rampe zur Tiefgarage hinabrollen ließ, zeigte ihr ein rascher Blick die Fassade entlang nach oben die für eine Freitagnacht normale Ansicht. Die meisten Fenster waren dunkel. Licht brannte nur noch in der Eingangshalle, in zwei oder drei Büros des Auslandshandels im zweiten Stock, in einem Büro der Rechtsabteilung im neunten Stock und in einem der Eckbüros auf der Vorstandsetage. Kein helles Fenster in der zehnten Etage. Von der Vermögensverwaltung war niemand mehr da. Johanna zwang sich zur Ruhe, atmete durch. Ihre Hand war ruhig, als sie Hildas Codekarte in das Terminal am Rollgitter vor der Einfahrt zur Tiefgarage schob. Mit traumwandlerischer Sicherheit tippte sie Hildas vierstellige Geheimnummer ein. 7381. Das Gitter glitt mit metallischem Surren nach oben.
Sie fuhr im Schrittempo durch die Halle und parkte den BMW in der Nähe des Treppenaufgangs. Sie hatte noch zwei Minuten. Der Weg vom Wagen zur Tür dauerte dreißig Sekunden. Sie wußte, daß jeder Schritt von einem halben Dutzend Videokameras an den Decken registriert wurde. Sie bewegte sich gemessen, lässig, selbstsicher. Die schwere Stahltür schwang lautlos auf, als das Terminal neben dem elektronischen Schloß ihre Codekarte und die Geheimnummer akzeptiert hatte. Eine Minute. Sie sah auf die Uhr und wartete genau dreißig Sekunden. Dann ging sie die Treppe hinauf.
Der Wachmann saß in seiner verglasten Loge in der Eingangshalle und löste ein Kreuzworträtsel. Routinemäßig blickte er im Minutenabstand auf, betrachtete abwechselnd den Monitor, die Eingangsfront, die Halle. Vor wenigen Minuten hatte die Überwachungsanlage einen ankommenden Wagen registriert. Er kannte die Frau nicht, die der Schwarzweißmonitor auf ihrem Weg durch die Tiefgarage zeigte. Dem perfekt wirkenden Äußeren nach mußte es eine Sekretärin der oberen Etagen sein. Bei denen war die Fluktuation nicht so hoch wie unter den übrigen, aber auch hier tauchten oft neue Gesichter auf. Der Wachmann fand nichts Außergewöhnliches daran, daß er diese Frau nicht kannte, ebensowenig wie an der Tatsache, daß sie mitten in der Nacht in der Bank erschien. Von den Vorständen war mindestens noch einer da, und auch von den Syndizi arbeitete noch jemand, wie er den Kontrolldaten entnahm. Der Wachmann tippte auf eine bevorstehende Geschäftsreise nach Übersee. Die Frau kam zur Bank, um ihren Chef abzuholen. Oder um die Unterlagen zusammenzupacken, die mitgenommen werden mußten. Vielleicht auch, um Händchen gegen die Flugangst zu halten. Oder um noch letzte Anweisungen an eine der Dependancen auf der anderen Seite des Globus zu faxen, bevor es auf die Reise ging.
Möglicherweise war auch für das Wochenende kurzfristig eine Vorstandssitzung anberaumt worden, eine Krisensitzung wie nach den Todesfällen neulich. Bei Privatbanken wie dieser waren Wochenendmeetings keine Seltenheit. Im Privatbankwesen wurde mehr verdient, aber auch mehr gearbeitet. Nach zwei Jahren im turnusmäßigen Einsatz bei einem halben Dutzend Bankinstituten war dem Wachmann alles Wissenswerte über die
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