Bankgeheimnisse
In Ernestos Gesicht arbeitete es. Johanna erkannte widerstreitende Gefühle, Zweifel, Qualen, Sorge, und, alles andere beherrschend, unverhohlene Freude.
Johanna starrte den kräftig gebauten, grauhaarigen Mann an, der Fabio hochzog und in die Arme schloß. Fabio erwiderte die Umarmung.
Der verlorene Sohn, schoß es ihr durch den Kopf. Dann, wie auf ein geheimes Kommando, kamen vier andere Männer aus der Bibliothek, die Fabio umringten und sofort begannen, schulterklopfend und gestikulierend zu palavern. Es klang wie das Geschrei bei einer kriegerischen Auseinandersetzung, aber sie lächelten und lachten dabei, und Johanna bemerkte, daß Ernestos Augen leuchteten. Die ganz normale Unterhaltung einer wiedervereinten italienischen Familie.
Dann gefror die Zeit zu einem gläsernen Augenblick, und Johanna begriff.
Familie. Dieser Gedanke kam wie ein Messerstich, spitz und scharf, und er zog einen ebenso schmerzhaften Schnitt nach sich, in den weitere Gedanken flössen. Sie erinnerte sich an Fabios Worte. Ein ziemlich einflußreicher Geschäftsmann. Einer der bekanntesten in Neapel. Sie schluckte und spürte den schwachen Nachklang ihrer Halsentzündung. Familien. In Bruchteilen von Sekunden spulte ihr Gedächtnis das Wissen über diese speziellen neapolitanischen Familien ab. Es gab etwa sechzig davon, die Neapel und die Campagna kontrollierten und jährlich mit Drogenhandel, Glücksspiel und Schutzgelderpressungen Milliardenumsätze erzielten. Einige unter den Clanchefs gehörten zu den reichsten Männern der Welt.
Johanna sah, wie Ernesto die Hand hob. Sofort verstummte die Unterhaltung. Er blickte zu ihr herüber. Fabio machte eine unmißverständliche Geste mit dem Kopf, und sie setzte sich zögernd in Bewegung. Ihre Absätze hallten auf dem Marmorboden. Der Trageriemen der Handtasche schnitt in ihre Schulter. Die Tasche schien plötzlich doppelt soviel zu wiegen wie vorher. Johanna blieb einen Meter vor Ernesto stehen und wartete, vergeblich bemüht, ihr Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Fabio sagte irgend etwas, und Johanna erkannte, daß er sie vorstellte. Sie streckte nervös die Hand aus, aber Ernesto nahm sie nicht, sondern faßte sie statt dessen bei den Schultern und zog sie an sich. Seine Brust war breit und muskulös, wie die von Fabio, und er roch nach einem teuren französischen Rasierwasser und nach Wolle. Sie blieb steif in seinen Armen und blickte in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Mißtrauen zu ihm hoch, als er sie an den Schultern ein Stück von sich weghielt und sie mit väterlichem Wohlwollen betrachtete. Er sagte etwas zu Fabio, der auf die Bemerkung entgegnete. Seine Äußerung veranlaßte die Männer zu einem anzüglichen Lachen. Johanna blickte sich irritiert um und schwankte, als Ernesto sie unvermittelt losließ. Sie fühlte sich benommen. Sofort war Fabio an ihrer Seite und ergriff ihren Arm. »Das hast du gut gemacht«, sagte er zu ihr, wie zu einem braven Kind. Er steuerte mit ihr auf eine der beiden Treppen zu und brachte sie ins Obergeschoß. Johanna ließ sich willenlos mitziehen, nach oben, vorbei an der Bildergalerie, dann einen mit orientalischen Teppichen ausgelegten Gang entlang. Die Wandlüster, die zwischen den zahlreichen Türen angebracht waren, erzeugten mit ihrem dämmrigen Schein eine verstaubt wirkende Atmosphäre, die Illusion längst vergangener Epochen.
Fabio führte sie bis zum Ende des Ganges, zu einem hohen, mit schweren Brokatdraperien verhängten Fenster. Er öffnete die letzte Tür auf der linken Seite, schob Johanna ins Zimmer und drückte die Tür hinter ihnen beiden ins Schloß.
»Die Reisetasche lasse ich dir gleich raufbringen.« Er dirigierte sie zu einem Bett mit riesenhaften Ausmaßen. Die vier gewaltigen Pfosten trugen einen Samtbaldachin, von dem Fransen herabhingen. Die blaßblaue Farbe des Betthimmels wiederholte sich in den Borten der Seidentapete und in den chinesischen Brücken, die das Tropenholzparkett bedeckten. Die drei Fenster an der Längsseite des Raumes waren mit ähnlichen Draperien abgehängt wie das Fenster am Ende des Ganges.
»Am besten nimmst du jetzt deine Medizin und ißt dann eine Kleinigkeit.«
»Das läßt du mir dann wohl auch raufbringen, oder?« fragte sie täuschend sanft.
»Ja, natürlich. Du bleibst hier oben, vorläufig jedenfalls. Du verläßt das Zimmer erst dann, wenn ich es dir sage.« Er wies auf eine Tür. »Da ist ein Bad, du wirst alles finden, was du brauchst. Und, Johanna... geh nicht an die
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