Bankgeheimnisse
Medizin, dachte sie. Ich muß die Medizin nehmen, ich habe zu lange damit gewartet. Wenn ich sie nicht regelmäßig nehme, bekomme ich einen Rückfall.
Sie schluckte ihre Dosis Penicillin, legte sich wieder auf das Bett und wartete, ohne zu wissen, worauf. Niemand kam zu ihr ins Zimmer, man brachte ihr weder zu essen noch ihre Reisetasche. Der Baldachin über ihr verschleierte auf magische Weise ihre Wahrnehmungen, die unmerklich schwingenden Fransen versetzten sie eine traumgleiche, hypnotische Gleichgültigkeit. Sie verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit.
Auch Gina schwebte in einer unwirklichen Welt zwischen Schlaf und Wachsein, wo die Menschen zu Schatten zerflossen und Worte zu Wind wurden. Der Raum, in dem sie sich befand, war voller Schatten und Wind. Etwas Kühles berührte ihre Hand, und der Schatten, der auf sie fiel, wurde zu Carlo, dem Sizilianer. »Gina? Bist du wach?«
»Nein«, murmelte sie.
Carlo lächelte leicht. »Ernesto möchte dich sprechen. Kannst du reden?«
Ihre Augen folgten seinem Blick zu dem Telefon, das er in ihre Hand gelegt hatte. »Fabio?« fragte sie mit banger Stimme.
»Es ist alles in Ordnung mit ihm«, sagte Carlo sanft. »Ich hatte es dir doch schon gesagt.«
»Ich dachte, ich hätte es vielleicht nur geträumt.«
»Er ist bei Ernesto. Johanna auch. Es geht ihnen gut. Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit und die beiden auch.«
Sie schloß die Augen und seufzte.
»Willst du jetzt mit deinem Mann sprechen?«
Sie nickte und wollte den Hörer ans Ohr heben, doch ihr Arm war zu schwach. Carlo sah es und half ihr.
»Ernesto?«
Sekundenlang hörte sie nichts, nur tiefes Atmen. Dann: »Ich bin da, Liebste. Wie geht es dir?«
»Weißt du, was sie mit mir gemacht haben?« fragte sie angstvoll. Er schwieg wieder. Schließlich sagte er zärtlich: »Mach dir keine Gedanken. Ich liebe dich.«
»Schwöre es.«
»Ich schwöre bei der heiligen Jungfrau Maria. Es hat sich nichts geändert. Du bist mein Leben.«
Sie hörte seine Worte und glaubte sie. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hob ihre freie Hand und wischte sie fort. Zum erstenmal, seit sie auf der verschneiten Landstraße das Bewußtsein verloren hatte, waren ihre Gedanken klar. Sie erinnerte sich dunkel, bereits einmal mit Ernesto telefoniert zu haben, aber nicht mehr wann oder wo. Jetzt wußte sie, wo sie war. Sie lag in einem Krankenhausbett. An der Wand gegenüber lehnten zwei Männer. Ernestos Leute. Gina wußte, daß sie hier waren, um sie zu beschützen, genau wie Carlo, den Fabio zu ihr geschickt hatte. Fabio. Er war in Sicherheit. Nichts anderes zählte für sie, nicht einmal die Schmerzen. Die Schmerzen waren sehr schlimm, ihr ganzer Körper tat ihr weh. Sie wußte, daß es hauptsächlich an den Schlägen lag. Morgen würde sie grün und blau sein. Ihre Füße hatten einen eigenen Herzschlag, und sie wußte, daß sie lange nicht würde laufen können. Doch sie wußte auch, daß alles wieder in Ordnung kommen würde. Ernesto liebte sie, und ihr Bruder und seine Frau waren in Sicherheit. Wieder weinte sie.
»Liebste, sprich jetzt mit deinem Bruder.«
Sie hörte Fabios Stimme. »Gina?«
»Mein lieber Junge!« Sie schluckte die Tränen und redete mit ihm, fragte nach Johanna. Er antwortete ihr, voller Verzweiflung und Sorge. Sie sprach mit ihm wie eine Mutter zu ihrem Kind, versuchte, ihn zu beruhigen, so wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Doch irgend etwas stand zwischen ihr und ihm. Ihre Beteuerung, daß es ihr gutgehe, daß sie es schaffen werde, daß sie ihn bald in die Arme schließen werde, schien auf eine Barriere zu stoßen. Sie fühlte, daß er sich nach ihr sehnte und ihr glaubte. Doch da war etwas, das ihn an den Rand der Selbstbeherrschung trieb. Sie verlangte, noch einmal mit Ernesto sprechen zu können.
»Ernesto, ist wirklich alles in Ordnung? Was ist mit Fabio los?«
»Er steht unter Streß, der gute Junge. Ich glaube, ihm ist schrecklich schlecht, und am liebsten würde er weinen. Alles in allem ist er eben doch ein Produkt deiner Erziehung. Doch er beherrscht sich eisern. Dir zuliebe und für das Mädchen. Ich glaube, der Junge wird noch lernen, seine Gefühle zu kontrollieren. Mach dir nicht so viele Gedanken.«
Gina fühlte, wie sie in den Schlaf hinüberglitt. Sie erinnerte sich, daß sie Tabletten bekommen hatte. »Geht es dir gut, Ernesto?« murmelte sie.
»Natürlich, Liebste. Sehr gut. Ich habe ein Geschenk für dich.«
»Ein
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