Bankster
aus dem Kühlschrank und setzte mich auf einen Stuhl am Esstisch, schaute zu, wie sie sich übers Kochbuch beugte, und fragte, was sie denn da koche. Sie nannte mir den Namen des Nudelgerichts. Ich fragte, wie ihr Tag gewesen war. Sie antwortete, dass er sehr schön gewesen sei, und ich meinte sofort, dass meiner das auch war. Sie wandte sich von Buch und Kochtöpfen ab und wollte irgendetwas aus dem Kühlschrank holen, machte das Gemüsefach auf und wieder zu, guckte in Tüten und warf sie entweder in den Müll oder legte sie zurück: »Ach, wir haben keine Limetten. Vorm Servieren soll man Limettenschale über die Nudeln reiben. Ich war so sicher, dass wir noch welche haben, da habe ich noch nicht einmal nachgesehen.«
Wie ich den Alltag vermisst hatte, diesen alltäglichen Alltag, und während sie sprach, überkam mich ein Freudenschauer. Ich schlug vor, Orangenschale übers Essen zu raspeln, oder einfach nur Parmesankäse. Harpa meinte, dass schon genug Käse im Essen sei, Orangenschale sich aber gut machen könnte. Sie machte den Kühlschrank mit einer Orange in der Hand zu, hielt sie sich unter die Nase und ließ sie dort, als ihr Blick auf die Zeitungsausschnitte auf der Kühlschranktür fiel, und auch noch, als sie ganz vorsichtig und ohne mich anzusehen fragte, ob ich etwas wegen der Stellenangebote unternommen hätte, die sie am Wochenende dort unter den Magnet geklemmt hatte – aber obwohl sie so vorsichtig fragte, dabei an der Orange roch und ich mich auf den Kontrast zwischen Farbe und Oberflächenstruktur des Obstes und Harpas heller, glatter Haut konzentrierte, machten die Worte meine Selbsttäuschung und den entspannten Limettenalltag kaputt. Meine Zehen tauten gerade schmerzhaft auf, als ich aufstand und sagte, dass ich vorm Essen noch baden wolle.
22.11. – Samstag
Harpa saß längs auf dem Sofa mit dem Laptop auf dem Schoß, lauschte dem Fernseher und surfte die ganze Zeit im Internet, fasste sich ab und zu mit zwei Fingern an die Unterlippe oder schnupperte an ihren Haaren. »Wir sind getaggt worden. Das interessiert dich vielleicht.« Generell muss man mir alles, was mit Facebook zu tun hat, zweimal sagen; was Harpa gesagt hatte, war da keine Ausnahme. Sie wiederholte es und meinte, dass es Bilder von der letzten Jahresfeier seien. Ich las weiter in meinem Buch, bis die Neugierde meine Konzentration zunichtemachte. Es waren rund fünfzig Fotos. Wir waren auf einigen davon zu sehen, manchmal bloß Schultern und Nacken, aber es gab auch einige gute Bilder von uns zusammen mit anderen oder nur von uns beiden, wie wir lachend, mit glänzenden Augen und gefalteten Händen über dem Festessen saßen. Harpa klickte weiter und fragte oft, ob ich von diesem oder jenem etwas gehört hätte. Die Antworten waren kurz. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wie lange her es mir vorkommt, dass wir dort gewesen sind.
Es scheint einen Riss im Zeitkontinuum gegeben zu haben. Er umfasst drei Tage, der 6., 7. und 8. Oktober existieren nicht; dort, wo sie sein müssten, ist nur dieses Ereignis, das für die undefinierbare Zeit steht.
Ich sah mir die Leute und Harpa und mich auf den Fotos an, wie man sich die Mumien im British Museum ansieht, tastete mich zu Harpas Beinen vor, beugte mich nach vorne und studierte die Details. Viel verändert, nicht nur der Haarschnitt. Guðni erschien mir viel kräftiger als bei unserem letzten Treffen, geradezu glänzend fett. Ich war gerührt, nicht zuletzt von mir selbst, und versuchte, meine Gedanken über die Zukunft hervorzukramen, die ich in jenem Augenblick wohl gehabt hatte, an einem Tag im frühen März letzten Jahres, als Harpa plötzlich sagte: »Hör mal, Mama und Papa haben uns für morgen zum Essen eingeladen«, und ich anfing, über Schwiegervaters Pranken nachzudenken, nachdem ich »großartig« gesagt hatte, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. Ich schaute so lange nicht auf, bis ich es musste, weil Harpa aufsprang und sagte, dass sie Kaffee für uns machen wolle. Kurz darauf kam sie mit einer Schale dunkler Schokorosinen zurück und fragte, ob wir diesen Abend nicht einfach zu Hause bleiben und uns La vie en rose oder etwas anderes ansehen wollten. Ich war einverstanden, obwohl ich wusste, dass es immer, wenn sie fragt, ob wir uns nicht La vie en rose oder etwas anderes ansehen, bedeutet, dass wir La vie en rose sehen und nichts anderes. Wir haben uns diesen Film schon mindestens fünfmal angesehen – oder nein, die erste Hälfte habe ich mit
Weitere Kostenlose Bücher