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Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Barcelona 01 - Der Schatten des Windes

Titel: Barcelona 01 - Der Schatten des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafon
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Unfall ums Leben gekommen, den ein unbesonnener Arzt als Selbstmord zu bezeichnen wagte. Miquel hatte die Leiche gefunden, die im tiefen Brunnenwasser des kleinen Sommerpalastes schimmerte, welchen die Familie in Argentona besaß. Als man sie an Seilen heraufzog, zeigte sich, daß die Taschen des Mantels der Toten mit Steinen gefüllt waren. Weiter fand sich ein in ihrer Muttersprache Deutsch geschriebener Brief, doch Señor Moliner, der sich nie die Mühe gemacht hatte, diese Sprache zu erlernen, verbrannte ihn noch am selben Abend, ohne daß ihn jemand lesen durfte. Überall sah Miquel Moliner den Tod, im dürren Laub, in den aus ihren Nestern gefallenen Vögeln, in den Alten und im Regen, der alles wegschwemmte. Er besaß ein außergewöhnliches Zeichentalent, und manchmal verlor er sich stundenlang in Kohleillustrationen, auf denen zwischen Nebelschwaden und menschenleeren Stränden immer eine Dame erschien, in der Julián seine Mutter vermutete.
»Was willst du werden, wenn du älter bist, Miquel?«
»Ich werde nie älter werden«, sagte er.
Seine größte Liebe, außer zu zeichnen und jedem lebenden Geschöpf zu widersprechen, galt den Werken eines geheimnisvollen österreichischen Arztes, der mit den Jahren Berühmtheit erlangen sollte: Sigmund Freud. Miquel Moliner, der dank seiner verstorbenen Mutter perfekt Deutsch las und schrieb, besaß mehrere Bände mit Schriften des Wiener Arztes. Sein Lieblingsgebiet war die Traumdeutung. Miquel pflegte die Leute nach ihren Träumen zu fragen, um dann eine Diagnose der unverhofften Patienten vorzunehmen. Immer sagte er, er werde jung sterben und es mache ihm nichts aus. Da er soviel an den Tod dachte, hatte er in ihm schließlich, wie Julián annahm, mehr Sinn gefunden als im Leben.
»An dem Tag, an dem ich sterbe, wird alles, was mein ist, dein sein, Julián«, sagte er. »Nur nicht die Träume.«
Außer mit Fernando Ramos, Miquel Moliner und Jorge Aldaya machte Julián bald die Bekanntschaft eines schüchternen, etwas widerborstigen Jungen namens Javier, des einzigen Sohns des Hausmeisterehepaars von San Gabriel, das in einem bescheidenen Häuschen beim Eingang zu den Gärten der Schule wohnte. Javier, in dem die andern Jungen genauso wie in Fernando mehr oder weniger einen unerwünschten Lakaien sahen, strich allein in den Gärten und Höfen des Geländes umher, ohne mit jemandem Kontakt zu knüpfen. So hatte er sich sämtliche Schlupfwinkel des Hauses, die unterirdischen Tunnel, die zu den Türmen emporführenden Gänge und allerlei labyrinthische Verstecke angeeignet, an die sich niemand mehr erinnerte. Das war seine geheime Welt, seine Zuflucht. Immer hatte er ein aus den Schubladen seines Vaters entwendetes Taschenmesser bei sich, mit dem er gern Holzfiguren schnitzte, die er im Taubenschlag der Schule verwahrte. Sein Vater Ramón, der Hausmeister, war ein Veteran aus dem Kubakrieg, in dem er eine Hand und, wie böswillig gemunkelt wurde, durch einen Schrotschuß den rechten Hoden verloren hatte. In der festen Überzeugung, Müßiggang sei aller Laster Anfang, hatte Ramón der Eineier, wie ihn die Schüler betitelten, seinen Sohn damit beauftragt, die dürren Nadeln des Pinienwäldchens und das Laub im Brunnenhof in einem Sack zu sammeln. Ramón war ein guter Mensch, etwas ungehobelt und unseligerweise dazu verdammt, sich schlechte Gesellschaft auszusuchen. Die schlimmste war seine Frau. Der Eineier hatte ein beschränktes Mannweib mit Prinzessinnenfantasien und dem Aussehen einer Putze geheiratet, die sich mit Vorliebe leichtbekleidet ihrem Sohn und den Schülern zeigte, welche Schauerposse Anlaß zu allwöchentlicher Gaudi gab. Mit Vornamen hieß sie María Craponcia, aber sie nannte sich Yvonne, das erschien ihr stilvoller. Sie pflegte ihren Sohn über die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs auszufragen, die ihm die Freundschaften verschafften, welche er vermeintlich mit der Crème der Barceloneser Gesellschaft knüpfte. Sie horchte ihn über das Vermögen von diesem und jenem aus und stellte sich schon vor, wie sie, wundersam herausgeputzt, in den großen Salons der guten Gesellschaft zu Tee und Blätterteiggebäck eingeladen wurde.
Javier verbrachte sowenig Zeit wie möglich zu Hause und war dankbar für die Aufgaben, die ihm sein Vater übertrug, so hart sie auch sein mochten. Jeder Vorwand war recht, um allein zu sein, um in seine Geheimwelt zu entwischen und seine Holzfiguren zu schnitzen. Wenn ihn die Mitschüler von weitem erblickten,

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