Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
hatten.
»Fortunato, Ihr Sohn kommt mit mir, ich will ihn meinem Jorge vorstellen. Keine Bange, später bringen wir ihn wieder nach Hause. Sag mal, mein Junge, bist du schon einmal in einen Mercedes eingestiegen?«
Daraus schloß Julián, daß das der Name dieses kaiserlichen Stücks war, das der Industrielle zur Fortbewegung gebrauchte. Er schüttelte den Kopf.
»Dann wird es aber allmählich Zeit. Es ist wie in den Himmel fahren, nur braucht man nicht zu sterben dabei.«
Antoni Fortuny sah sie in dieser gewaltigen Luxuskarosse davonfahren, und als er in seinem Herzen suchte, verspürte er nur Trauer. Beim Abendessen mit Sophie (die ihr neues Kleid und die neuen Schuhe trug und kaum noch Male und Narben zeigte) fragte er sich, worin er sich diesmal geirrt hatte. Genau dann, als Gott ihm einen Sohn zurückgab, nahm Aldaya ihn ihm wieder weg.
Noch nie war Julián über die Diagonal hinausgekommen. Diese aus Alleen, alten Stammsitzen und auf eine Stadt wartenden Palästen bestehende Linie war eine verbotene Grenze. Oberhalb der Diagonal lagen geheimnisvolle, reiche, legendenhafte Weiler, Hügel und Orte. Während sie sie überquerten, erzählte ihm Aldaya von der San-Gabriel-Schule und von neuen Freunden, die er haben würde.
»Und du, Julián, was ist denn dein Ziel? Im Leben, meine ich.«
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, ich möchte Schriftsteller werden. Romanautor.«
»Klar, du bist noch sehr jung. Und sag, das Bankgeschäft lockt dich nicht?«
»Ich weiß es nicht, Señor. Daran habe ich eigentlich noch gar nie gedacht. Ich habe noch nie mehr als drei Peseten auf einmal gesehen. Die Hochfinanz ist ein Geheimnis für mich.«
Aldaya lachte.
»Da gibt es überhaupt kein Geheimnis, Julián. Der Trick besteht darin, nicht drei und drei Peseten zusammenzubringen, sondern drei Millionen und drei Millionen. Dann gibt es kein wirkliches Rätsel mehr. Nicht einmal die Heilige Dreifaltigkeit.«
Als sie an diesem Nachmittag die Avenida del Tibidabo hinauffuhren, glaubte Julián die Pforten des Paradieses zu durchschreiten. Villen, die ihm wie Kathedralen erschienen, flankierten den Weg. Auf halber Strecke bog der Fahrer ab, und sie fuhren durch das Gittertor einer der Villen. Auf der Stelle setzte sich eine Heerschar von Bediensteten in Bewegung, um den Herrn zu empfangen. Alles, was Julián sehen konnte, war ein majestätisches, dreistöckiges altes Haus. Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, daß an einem solchen Ort wirkliche Menschen wohnen könnten. Er ließ sich durch die Eingangshalle mitziehen, durchquerte einen gewölbten Saal, von dem aus eine von Samtvorhängen gesäumte Marmortreppe in die Höhe führte, und trat in einen großen Raum, dessen Wände vom Boden bis zur Unendlichkeit mit Büchern verkleidet waren.
»Na?« fragte Aldaya.
Julián hörte ihn kaum.
»Damián, sag Jorge, er soll sogleich in die Bibliothek herunterkommen. Du wirst andere Kleider benötigen, Julián. Manche Barbaren achten nur auf das Äußere … Ich werde Jacinta sagen, sie soll das übernehmen, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Und vielleicht sagst du deinem Vater besser nichts davon, damit er sich nicht verletzt fühlt. Schau, da kommt Jorge. Jorge, du sollst einen prima Jungen kennenlernen, der dein neuer Klassenkamerad sein wird. Julián Fortu …«
»Julián Carax«, präzisierte Julián.
»Julián Carax«, wiederholte Aldaya zufrieden. »Gefällt mir, wie es klingt. Das ist mein Sohn Jorge.«
Julián reichte ihm die Hand, und Jorge ergriff sie. Es war ein schwammiger Händedruck. Nach einer Kindheit in dieser Puppenwelt war sein Gesicht blaß ziseliert. Er trug Kleider und Schuhe, die Julián wie aus einem Roman vorkamen. Sein Blick verriet Süffisanz und Anmaßung, Verachtung und zuckersüße Höflichkeit. Julián lächelte ihm offen zu, als er unter diesem Panzer von Gepränge und Würde Unsicherheit, Angst und Leere erkannte.
»Stimmt es, daß du keins dieser Bücher gelesen hast?«
»Bücher sind langweilig.«
»Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat«, erwiderte Julián.
Don Ricardo Aldaya lachte wieder.
»Nun, ich lasse euch allein, damit ihr euch kennenlernen könnt. Julián, du wirst sehen, daß Jorge unter dieser Maske des verzogenen, eingebildeten Jungen nicht so dumm ist, wie er ausschaut. Etwas von seinem Vater hat er schon.«
Aldayas Worte schienen den Jungen wie Dolche zu treffen, aber sein Lächeln ging keinen Millimeter zurück. Julián bereute seine Antwort.
»Du bist
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