Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
bestimmt der Sohn des Hutmachers«, sagte Jorge ganz ohne Herablassung. »In letzter Zeit spricht mein Vater oft von dir.«
»Das ist nur das Neue. Ich hoffe, du schenkst dem keine Beachtung. Unter dieser Maske des vorlauten Besserwissers bin ich nicht so idiotisch, wie ich ausschaue.«
Jorge lächelte ihm zu. Julián dachte, er lächle wie Leute, die keine Freunde haben – dankbar.
»Komm, ich zeige dir den Rest des Hauses.«
Sie verließen die Bibliothek Richtung Haupteingang und Park. Als sie durch den Saal gingen, schaute Julián am Fuß der Marmortreppe auf und erkannte den Hauch einer Gestalt, die mit der Hand auf dem Geländer hinanstieg. Er hielt den Atem an. Das Mädchen mußte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und wurde von einer reifen, kleinen, rosigen Frau eskortiert, allem Anschein nach ihre Kinderfrau. Das Mädchen trug ein blaues Satinkleid. Ihr Haar war mandelfarben, und die Haut der Schultern und des schlanken Halses schien transparent zu sein. Oben an der Treppe blieb sie stehen und wandte sich für einen Augenblick um. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke, und sie schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. Dann legte ihr die Kinderfrau den Arm um die Schultern und führte sie zur Schwelle eines Gangs, in dem die beiden verschwanden. Julián senkte die Augen und fand sich wieder mit Jorge.
»Das ist meine Schwester Penélope. Du wirst sie schon noch kennenlernen. Sie ist ein wenig überspannt. Den ganzen Tag liest sie. Na los, komm, ich werde dir die Kapelle im Keller zeigen. Die Köchinnen sagen, sie ist verhext.«
Willig folgte ihm Julián, aber die Welt wankte unter ihm. Zum ersten Mal, seit er in Don Ricardo Aldayas Mercedes gestiegen war, begriff er, was da vor sich ging. Er hatte unzählige Male von ihr geträumt, von dieser Treppe, diesem blauen Kleid und diesem Blick, ohne zu wissen, wer sie war noch warum sie ihm zulächelte. Als sie in den Park hinaustraten, ließ er sich von Jorge zu den Garagen und Tennisplätzen führen, die sich jenseits erstreckten. Erst jetzt schaute er zurück und erblickte sie, in ihrem Fenster im zweiten Stock. Kaum konnte er ihre Gestalt richtig erkennen, aber er wußte, daß sie ihm zulächelte und daß auch sie ihn irgendwie wiedererkannt hatte.
Die flüchtige Erscheinung Penélope Aldayas oben auf der Treppe begleitete ihn während seiner ersten Wochen in der San-Gabriel-Schule. Seine neue Welt hatte viele verschiedene Gesichter, und nicht alle sagten ihm zu. Die San-Gabriel-Schüler benahmen sich wie arrogante Fürsten, während ihre Lehrer so etwas wie gebildete Diener waren. Der erste Freund, den Julián dort außer Jorge Aldaya gewann, war ein Junge namens Fernando Ramos, Sohn eines der Köche der Schule, der sich nie ausgemalt hätte, daß er eines Tages eine Soutane tragen und in denselben Schulzimmern Unterricht erteilen würde, in denen er groß geworden war. Fernando, dem die andern den Spitznamen Topfgucker gaben und den sie wie einen Dienstboten behandelten, besaß eine wache Intelligenz, hatte aber kaum Freunde unter den Mitschülern. Sein einziger Kamerad war ein verrückter Junge namens Miquel Moliner, der mit der Zeit der beste Freund werden sollte, den Julián an dieser Schule überhaupt hatte. Miquel Moliner, mit zuviel Hirn und zuwenig Geduld ausgestattet, machte sich ein Vergnügen daraus, seine Lehrer zur Weißglut zu bringen, indem er ihre sämtlichen Ausführungen mit dialektischen Spielchen anzweifelte, die ebensoviel Witz wie Grausamkeit verrieten. Die andern fürchteten seine spitze Zunge und hielten ihn für einer andern Spezies zugehörig, was in gewisser Hinsicht nicht ganz abwegig war. Trotz seines bohemienhaften Äußeren und seines wenig aristokratischen Benehmens war Miquel der Sohn eines durch die Fabrikation von Waffen geradezu absurd reich gewordenen Industriellen.
»Carax, nicht wahr? Ich höre, daß dein Vater Hüte macht«, sagte er, als Fernando Ramos sie einander vorstellte.
»Julián für meine Freunde. Ich höre, daß deiner Kanonen macht.«
»Er verkauft sie bloß. Was das Machen betrifft, so weiß er nichts anderes zu machen als Geld. Meine Freunde, zu denen ich nur Nietzsche und den Genossen Fernando da zähle, nennen mich Miquel.«
Miquel Moliner war ein trauriger Junge. Er war in ungesunder Weise vom Tod und allen damit zusammenhängenden Themen besessen, auf deren Betrachtung er einen Großteil seiner Zeit und seines Talents verwandte. Drei Jahre zuvor war seine Mutter bei einem merkwürdigen häuslichen
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