Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
Rest der Fahrt dachte ich über diese philosophische Perle nach, während Fermín ein weiteres begnadetes Nickerchen machte. An der Ecke Gran Vía/Paseo de Gracia stiegen wir unter einem aschfarbenen, das Licht verschluckenden Himmel aus. Fermín knöpfte seinen Mantel bis an die Gurgel hinauf zu und verkündete, er laufe nun eiligst in seine Pension, um sich für das Rendezvous mit der Bernarda herauszuputzen.
»Sie müssen wissen, daß mit einem höchst bescheidenen Aussehen wie meinem unter anderthalb Stunden Toilette kein Staat zu machen ist. Es gibt keinen Geist ohne Gestalt, das ist die traurige Wirklichkeit dieser gauklerischen Zeiten. Vanitas peccatum mundi.«
Durch die Gran Vía sah ich diese Andeutung von einem Männchen davoneilen, in seinen grauen Mantel eingemummelt, der flatterte wie eine verschossene Fahne im Wind. Ich machte mich auf den Heimweg, um mich zu Hause mit einem guten Buch vor der Welt zu verstecken. Als ich von der Puerta del Ángel in die Calle Santa Ana einbog, blieb mir das Herz stehen. Wie immer hatte Fermín recht gehabt: In grauem Kostüm, neuen Schuhen und Seidenstrümpfen wartete vor der Buchhandlung das Schicksal auf mich und betrachtete sein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe.
»Mein Vater glaubt, ich bin in der Zwölf-Uhr-Messe«, sagte Bea, ohne ihr Bild aus den Augen zu lassen.
»Das bist du ja sozusagen auch. In der Kirche Santa Ana, weniger als zwanzig Meter von hier, läuft seit neun Uhr eine Dauervorstellung.«
Wir unterhielten uns wie zwei Unbekannte, die zufällig vor einem Schaufenster stehengeblieben waren, und suchten in der Scheibe unseren Blick.
»Da gibt es nichts zu witzeln. Ich habe ein Sonntagsblatt studieren müssen, um zu sehen, wovon die Predigt handelt. Später wird er von mir verlangen, daß ich sie ihm ausführlich zusammenfasse.«
»Deinem Vater entgeht nichts.«
»Er hat geschworen, dir die Beine zu brechen.«
»Vorher wird er herauskriegen müssen, wer ich bin. Und solange sie noch intakt sind, laufe ich schneller als er.«
Sie sah mich angespannt an und schielte immer wieder über die Schulter hinweg nach den Passanten, die hinter uns vorbeiglitten.
»Ich weiß nicht, worüber du lachst«, sagte sie. »Es ist ihm Ernst damit.«
»Ich lache nicht. Ich bin halb tot vor Angst. Ich freue mich einfach, dich zu sehen.«
Ein Lächeln auf halbmast, nervös, flüchtig.
»Ich mich auch.«
»Das sagst du, als wäre es eine Krankheit.«
»Es ist schlimmer als das. Ich dachte, wenn ich dich im Tageslicht wiedersehen würde, käme ich vielleicht zur Vernunft.«
Ich fragte mich, ob das ein Kompliment oder eine Mißbilligung war.
»Man darf uns nicht zusammen sehen, Daniel. Nicht so, auf offener Straße.«
»Wenn du willst, können wir in die Buchhandlung hineingehen, im Hinterraum steht eine Kaffeemaschine, und …«
»Nein. Ich will nicht, daß mich jemand hier hineingehen oder herauskommen sieht. Wenn mich jetzt jemand mit dir plaudern sieht, kann ich immer noch sagen, ich habe zufällig den besten Freund meines Bruders getroffen. Wenn man uns zweimal zusammen ertappt, erregen wir Verdacht.«
Ich seufzte.
»Wer soll uns denn sehen? Wen geht es etwas an, was wir tun?«
»Die Leute haben immer Augen für das, was sie nichts angeht, und mein Vater kennt halb Barcelona.«
»Warum bist du denn hergekommen und wartest auf mich?«
»Ich bin nicht gekommen, um auf dich zu warten. Ich bin zur Messe gegangen, erinnerst du dich? Du hast es eben selbst gesagt. Zwanzig Meter von hier …«
»Du machst mir Angst, Bea. Du lügst ja noch besser als ich.«
»Du kennst mich nicht, Daniel.«
»Das sagt dein Bruder.«
Unsere Blicke trafen sich in der Fensterscheibe.
»Du hast mir neulich abends etwas gezeigt, was ich noch nie gesehen hatte«, murmelte sie. »Jetzt bin ich dran.«
Ich runzelte gespannt die Stirn. Bea öffnete ihre Tasche, zog ein zusammengefaltetes Kärtchen heraus und gab es mir.
»Du bist nicht der einzige, der die Geheimnisse von Barcelona kennt, Daniel. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich erwarte dich heute nachmittag um vier an dieser Adresse. Niemand darf wissen, daß wir dort verabredet sind. Wenn du nicht kommst, werde ich es verstehen«, sagte sie. »Ich werde verstehen, daß du mich nicht mehr sehen willst.«
Ohne mir auch nur eine Sekunde Zeit für eine Antwort zu geben, machte sie kehrt und ging behenden Schrittes Richtung Ramblas davon. Ich schaute ihr nach, bis ihre Gestalt in dem grauen Halbdunkel verschmolz, das dem Gewitter vorausging. Ich
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