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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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kein Hirn hat, dann wenigstens die Hände.«
    »Aber manchmal arbeitet man auch zu viel, Señor Sempere. Sollten Sie sich nicht eine Atempause gönnen? Wie viele Jahre sind Sie hier schon auf Posten?«
    Sempere schaute um sich.
    »Dieser Ort ist mein Leben, Martín. Was soll ich tun?
    Mich auf eine Parkbank in die Sonne setzen, Tauben füttern und übers Rheuma jammern? Ich wäre in zehn Minuten tot. Mein Platz ist hier. Und mein Sohn ist noch nicht so weit, um das Heft in die Hand zu nehmen, auch wenn er es meint.«
    »Aber er arbeitet hart. Und er ist ein guter Mensch.«
    »Ein zu guter Mensch, unter uns gesagt. Manchmal schaue ich ihn an und frage mich, was wohl aus ihm wird, wenn ich eines Tages nicht mehr bin. Wie er zurechtkommt …«
    »Das tun alle Väter, Señor Sempere.«
    »Auch der Ihre? Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht …«
    »Macht nichts. Mein Vater hatte schon genug mit sich zu tun, als dass er sich noch mit meinen Problemen hätte herumschlagen können. Ihr Sohn hat bestimmt mehr Erfahrung, als Sie glauben.«
    Er schaute mich zweifelnd an.
    »Wissen Sie, was ich glaube, was ihm fehlt?«
    »Gerissenheit?«
    »Eine Frau.«
    »Es wird ihm ja nicht an Freundinnen mangeln bei all den Täubchen, die sich vorm Schaufenster drängeln, um ihn zu bestaunen.«
    »Ich meine eine wirkliche Frau, eine, die einen dazu bringt, das zu sein, was man sein muss.«
    »Er ist doch noch jung. Lassen Sie ihn sich noch ein paar Jahre amüsieren.«
    »Das wäre ja wunderbar – wenn er sich wenigstens amüsieren würde. Hätte ich in seinem Alter einen solchen Ansturm junger Mädchen erlebt, ich hätte gesündigt wie ein Kardinal.«
    »Gott gibt dem Brot, der keine Zähne hat.«
    »Genau das fehlt ihm: Zähne. Und die Lust zuzubeißen.«
    Ich hatte den Eindruck, etwas gehe ihm durch den Kopf. Er schaute mich an und lächelte. »Vielleicht können ja Sie ihm helfen …« »Ich?«
    »Sie sind ein Mann von Welt, Martín. Und machen Sie nicht so ein Gesicht. Wenn Sie sich bemühen, finden Sie sicherlich ein nettes Mädchen für meinen Sohn. Ein hübsches Gesicht hat er ja. Den Rest bringen Sie ihm bei.«
    Mir fehlten die Worte.
    »Wollten Sie mir nicht helfen?«, fragte der Buchhändler. »Jetzt haben Sie die Möglichkeit dazu.«
    »Ich habe von Geld gesprochen.«
    »Und ich spreche von meinem Sohn, von der Zukunft dieses Hauses. Von meinem ganzen Leben.«
    Ich seufzte. Sempere nahm meine Hand und drückte sie mit dem bisschen Kraft, das er noch hatte.
    »Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht von dieser Welt gehen lassen, ohne dass ich meinen Sohn mit einer Frau verheiratet sehe, für die es sich zu sterben lohnt. Und dass er mir einen Enkel schenkt.«
    »Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht gekommen.«
    Sempere lächelte.
    »Manchmal denke ich, Sie hätten auch mein Sohn sein können, Martín.«
    Ich schaute den Buchhändler an, der zerbrechlicher und älter war denn je, nur noch ein Schatten des kräftigen, imposanten Mannes, der mir seit meiner Kindheit in Erinnerung war, und es kam mir vor, als bräche für mich eine Welt zusammen. Ich trat zu ihm, und ehe ich mich’s versah, tat ich, was ich in all den Jahren, die ich ihn kannte, noch nie getan hatte: Ich küsste ihn auf die fleckenübersäte Stirn mit dem spärlichen grauen Haar. »Versprechen Sie es mir?«
    »Ich verspreche es Ihnen«, sagte ich auf dem Weg zum Ausgang.
     

 20
    Valeras Kanzlei nahm das Dachgeschoss eines ausgefallenen modernistischen Hauses in der Avenida Diagonal 442 ein, nur wenige Schritte vom Paseo de Gracia entfernt. Das Gebäude sah aus wie eine Kreuzung zwischen einer gigantischen Standuhr und einem Piratenschiff und hatte hohe Fenster und ein Dach mit grünen Mansarden. Überall sonst auf der Welt wäre dieser barock-byzantinische Bau zum Weltwunder oder zum teuflischen Machwerk eines verrückten, von jenseitigen Geistern besessenen Künstlers erklärt worden. In Barcelona jedoch, wo an jeder Ecke des Ensanche-Viertels derartige Gebäude wie Pilze aus dem Boden schössen, war es kaum ein Wimpernzucken wert.
    Im Hausflur fand ich einen Aufzug, der aussah, als hätte ihn eine große Spinne hinterlassen, die Kathedralen statt Netze webte. Der Pförtner öffnete die Tür und sperrte mich in die seltsame Kapsel, die in der Mitte des Treppenhauses aufzusteigen begann. Eine finster dreinblickende Sekretärin öffnete mir die verzierte Eichentür und bat mich herein. Ich nannte ihr meinen Namen und sagte, ich hätte keinen Termin, mein

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