Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
erschöpft, das Gesicht tränenüberströmt, die Augen gerötet. So verharrten wir fast eine halbe Stunde, bis sich ihr Körper allmählich entspannte. Sie fiel in ein langes Schweigen. Ich deckte sie zu und umarmte sie, ohne ihr meine eigenen Tränen zu zeigen.
»Wir werden weit weg gehen«, raunte ich ihr ins Ohr, ohne zu wissen, ob sie mich hören oder verstehen konnte. »Irgendwohin, wo niemand weiß, wer wir sind, und wo es den Leuten egal ist. Ich verspreche es dir.«
Cristina wandte mir den Kopf zu. Ihr Ausdruck war leer, als hätte man ihr die Seele mit dem Hammer zerschlagen. Ich umarmte sie fest und küsste sie auf die Stirn. Draußen goss es noch immer, und in diesem blassgrauen Morgenlicht gefangen, dachte ich zum ersten Mal: Wir gehen unter.
39
Noch an diesem Morgen gab ich das Projekt für den Patron auf. Während Cristina schlief, ging ich in mein Arbeitszimmer hinauf und verstaute die Mappe mit allen schon geschriebenen Seiten, mit den Notizen und Entwürfen in einer alten Truhe an der Wand. In einem ersten Impuls hatte ich alles verbrennen wollen, doch dann verließ mich der Mut. Mein ganzes Leben lang hatte ich die Seiten, die ich hervorbrachte, als einen Teil von mir empfunden. Normale Menschen bringen Kinder zur Welt, unsereiner Bücher. Wir Schriftsteller sind dazu verdammt, ihnen unser ganzes Leben zu widmen, obwohl sie es uns fast nie danken. Wir sind dazu verdammt, auf ihren Seiten zu sterben, ja manchmal ohnmächtig hinzunehmen, dass sie uns tatsächlich ums Leben bringen. Von all den seltsamen Geschöpfen aus Papier und Tinte, die ich auf diese elende Welt gebracht hatte, war dieses Auftragswerk als Gegenleistung für die Versprechungen des Patrons das groteskeste. Es gab nichts auf diesen Seiten, was etwas anderes als das Feuer verdient hätte, und doch blieben sie Blut von meinem Blut, und ich brachte es nicht fertig, sie zu vernichten. Ich begrub sie ganz unten in dieser Truhe und verließ betrübt das Arbeitszimmer. Beinahe schämte ich mich über meine Feigheit und die diffusen Vatergefühle, die mir dieses finstere Manuskript einflößte. Wahrscheinlich hätte der Patron die Ironie der Lage zu schätzen gewusst. Mir verursachte sie nichts als Übelkeit.
Cristina schlief bis weit in den Nachmittag hinein. Das nutzte ich, um in einem Milchgeschäft neben dem Markt etwas Milch, Brot und Käse zu kaufen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, aber die Straßen waren eine einzige Pfütze, und die Feuchtigkeit in der Luft war zu greifen wie kalter Staub und drang durch die Kleider bis in die Knochen. Während ich im Laden wartete, bis ich an die Reihe kam, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich wieder auf der Straße war und den Paseo del Born überquerte, drehte ich mich um und sah, dass mir ein knapp fünfjähriger Junge folgte. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Er blieb ebenfalls stehen und hielt meinem Blick stand.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich. »Komm her.«
Er näherte sich ein paar Schritte bis auf wenige Meter. Seine Haut war blass, fast bläulich, als hätte sie nie das Sonnenlicht gesehen. Er war schwarz gekleidet, trug glänzende neue Lackschuhe und hatte dunkle Augen mit so großen Pupillen, dass kaum das Weiße zu sehen war.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Er lächelte und zeigte mit dem Finger auf mich. Ich wollte einen Schritt auf ihn zu tun, aber er lief davon und verschwand am Ende des Paseo del Born.
Wieder zuhause, sah ich, dass ein Brief in der Tür steckte. Das rote Lacksiegel mit dem Engel war noch warm. Ich schaute mich nach links und rechts um, sah aber niemanden auf der Straße. Ich ging in die Vorhalle und schloss die Haustür doppelt ab. Noch bevor ich hinaufging, riss ich den Umschlag auf.
Lieber Freund,
ich bedaure zutiefst, dass Sie gestern Abend nicht zu unserem Treffen kommen konnten. Ich hoffe, es geht Ihnen gut und es war weder ein Notfall noch ein Missgeschick für ihr Fernbleiben verantwortlich. Es ist schade, dass ich diesmal nicht in den Genuss Ihrer Gesellschaft kommen konnte, aber ich hoffe darauf und wünsche, dass sich glücklich löst, was immer Sie daran gehindert hat, mich zu treffen, und dass nächstes Mal die Voraussetzungen für unsere Begegnung günstiger sind. Ich muss für einige Tage die Stadt verlassen, aber sobald ich zurück bin, werde ich mich bei Ihnen melden. In der Erwartung, Neues von Ihnen und Ihren Fortschritten bei unserem gemeinsamen Projekt zu erfahren, grüßt Sie wie
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