Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
Bahnsteigs ins Leere fiel. Als ich aufschaute, war es endgültig zu spät. Der Zug entfernte sich immer mehr, und Cristinas Gesicht schaute aus dem hintersten Fenster zu mir zurück.
Ich öffnete die Augen und wusste sogleich, dass sie nicht da war. Das Feuer war zu einem Häufchen Asche geschrumpft, in dem es kaum noch Glut gab. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Es wurde Tag. Ich presste das Gesicht an die Scheibe, draußen sah ich eine flimmernde Helligkeit. Dann ging ich zur Wendeltreppe, die in den Turm hinaufführte. Kupferglanz ergoss sich über die Stufen. Langsam stieg ich hinauf. Auf der Schwelle zum Arbeitszimmer blieb ich stehen. Cristina saß mit dem Rücken zu mir auf dem Boden. Die Truhe an der Wand stand offen. Sie hatte die Mappe mit dem Manuskript für den Patron in der Hand und wollte eben die Schleife lösen.
Als sie meine Schritte hörte, hielt sie inne.
»Was machst du hier?« Ich versuchte, die Beunruhigung in meiner Stimme zu verbergen.
Lächelnd wandte sie sich um.
»Herumschnüffeln.«
Sie folgte meinem Blick auf die Mappe in ihren Händen und machte ein schelmisches Gesicht. »Was ist da drin?«
»Nichts. Notizen. Aufzeichnungen. Nichts von Interesse …«
»Lügner. Ich gehe jede Wette ein, dass dies das Buch ist, an dem du gearbeitet hast.« Sie nestelte weiter an der Schleife herum. »Ich sterbe fast vor Lust, es zu lesen …«
»Mir wäre es lieber, du würdest es nicht tun«, sagte ich so gelassen wie möglich.
Sie runzelte die Stirn. Ich nutzte den Augenblick, um vor ihr niederzuknien und ihr die Mappe sanft zu entwinden.
»Was ist los, David?«
»Nichts, gar nichts ist los«, sagte ich mit einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen.
Ich band die Schleife wieder fest und legte die Mappe in die Truhe.
»Willst du sie nicht noch abschließen?«, fragte Cristina.
Ich drehte mich um und wollte mich entschuldigen, aber da war sie bereits treppab verschwunden. Mit einem Seufzer klappte ich den Deckel über der Truhe zu.
Sie war im Schlafzimmer. Einen Moment lang sah sie mich an wie einen Fremden. Ich blieb in der Tür stehen.
»Entschuldige«, begann ich.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte die Nase nicht in Dinge stecken sollen, die mich nichts angehen.«
»Das ist es nicht.«
Sie schenkte mir ein eisiges Lächeln und zerschnitt mit einer Handbewegung die Luft.
»Es hat keine Bedeutung«, sagte sie.
Ich nickte und verschob die Fortsetzung auf ein andermal.
»Bald öffnen im Francia-Bahnhof die Schalter«, sagte ich. »Ich dachte, ich geh schon mal hin, um rechtzeitig dort zu sein, und kaufe die Fahrkarten für heute Mittag. Danach gehe ich zur Bank und hebe Geld ab.«
Cristina nickte.
»Sehr schön.«
»Warum packst du nicht inzwischen eine Tasche mit etwas zum Anziehen? Ich bin in höchstens zwei Stunden zurück.«
Sie lächelte schwach. »Ich werde da sein.«
Ich trat zu ihr und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände.
»Morgen Abend sind wir in Paris«, sagte ich, küsste sie auf die Stirn und ging.
41
Der Boden der Halle des Francia-Bahnhofs lag vor mir wie ein Spiegel, der das Bild der großen Uhr an der Decke wiederholte. Die Zeiger standen auf sieben Uhr fünfunddreißig, aber die Schalter waren noch immer geschlossen. Ein mit grobem Besen und geziertem Wesen ausgestatteter Putzer wienerte den Boden. Dabei sang er ein Lied und wiegte, soweit es ihm sein Hinkebein erlaubte, mit einer gewissen Grazie die Hüften. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, schaute ich ihm zu. Er war ein winziges Männchen, das die Welt in sich selbst zusammengefaltet zu haben schien, bis ihm nur noch sein Lächeln geblieben war – und das Vergnügen, dieses Stück Boden sauber zu halten, als wäre es die Sixtinische Kapelle. Sonst war in der Halle niemand zu sehen. Schließlich bemerkte er, dass er beobachtet wurde. Als ihn die fünfte Durchquerung an meinem Observationsposten auf einer der Holzbänke am Rande der Halle vorbeiführte, blieb er stehen, stützte sich mit beiden Händen auf den Mopp und schaute mich unverblümt an.
»Sie machen nie zur angekündigten Zeit auf«, erklärte er mit einer Handbewegung zu den Schaltern hin.
»Warum hängen sie dann ein Schild auf, dass sie um sieben öffnen?«
Das Männchen zuckte die Schultern und seufzte philosophisch.
»Na ja, sie machen ja auch einen Fahrplan für die Züge, und in den fünfzehn Jahren, die ich hier bin, habe ich keinen einzigen pünktlich ankommen oder abfahren sehen.«
Dann
Weitere Kostenlose Bücher