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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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war. Ich ging die Mappe durch, vermisste aber nichts. Diesmal verschnürte ich sie mit einem doppelten Knoten und legte sie zurück. Ich klappte den Deckel zu und ging in die Wohnung hinunter. Dort setzte ich mich in die Veranda, mit Blick auf den langen Korridor, der zur Eingangstür führte, und wartete. Die Minuten zogen mit grenzenloser Grausamkeit vorüber.
    Langsam brach über mich das Bewusstsein dessen herein, was geschehen war, und der Wunsch, zu glauben und zu vertrauen, wurde zu Galle und Bitterkeit. Bald hörte ich die Glocken von Santa Maria del Mar zwei Uhr schlagen. Längst war der Zug nach Paris abgefahren und Cristina nicht zurückgekommen. Ich begriff, dass sie gegangen war, dass die kurzen gemeinsamen Stunden nur eine Illusion gewesen waren. Vor den Fenstern sah ich den strahlenden Tag, nun nicht mehr in der Farbe des Glücks, und ich stellte mir vor, wie sie wieder in der Villa Helius war und in Pedro Vidals Armen Zuflucht suchte. Ich spürte, wie mir der Groll langsam das Blut vergiftete, und lachte über mich und meine absurden Erwartungen. Unfähig, einen einzigen Schritt zu tun, sah ich zu, wie die Stadt in der Dämmerung dunkler und dunkler und die Schatten auf dem Boden der Veranda länger wurden. Dann stand ich auf und trat ans Fenster. Ich öffnete es weit und schaute hinaus. Ein senkrechter Abgrund tat sich vor mir auf. Genügend, um mir die Knochen zu zerschmettern und sie in Dolche zu verwandeln, die meinen Körper durchbohrten, sodass er in einer Blutlache auf dem Hof verlöschte. Ich fragte mich, ob der Schmerz so grässlich wäre, wie ich ihn mir vorstellte, oder ob die Wucht des Aufpralls die Sinne betäuben und der Tod schnell eintreten würde.
    Da hörte ich die Schläge an der Tür. Einen, zwei, drei. Ein beharrliches Klopfen. Noch von meinen Gedanken benommen, drehte ich mich um. Erneutes Klopfen. Jemand stand unten vor der Tür. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich stürzte die Treppe hinunter, in der festen Überzeugung, Cristina sei zurückgekommen, unterwegs sei irgendetwas vorgefallen und habe sie aufgehalten, mein schäbiges, verwerfliches Misstrauen sei ungerechtfertigt gewesen, allem zum Trotz sei das nun der erste Tag des verheißenen Lebens. Ich lief zur Tür und riss sie auf. Da stand sie, im Halbdunkel, weiß gekleidet. Ich wollte sie umarmen, aber da sah ich ihr tränenüberströmtes Gesicht und musste begreifen, dass diese Frau nicht Cristina war.
    »David«, flüsterte Isabella mit erstickter Stimme,«Señor Sempere ist gestorben.«
     

 
     
     
     
    Dritter Akt
     
     
    Das Spiel des Engels
     
     

 1
    Als wir zur Buchhandlung kamen, war es schon dunkel. Vor der Tür von Sempere und Söhne hatten sich rund hundert Menschen mit Kerzen versammelt, und ein goldener Lichtschein durchbrach das Blau der Nacht. Einige weinten still, andere schauten sich stumm an. Ein paar Gesichter kannte ich, Freunde und Kunden von Sempere, Leute, die er mit Büchern beschenkt oder zum Lesen gebracht hatte. Je weiter sich die Nachricht im Viertel verbreitete, desto mehr Kunden und Freunde erschienen, die nicht glauben konnten, dass Señor Sempere nicht mehr da war.
    In der Buchhandlung brannte Licht, und man sah Don Gustavo Barceló einen jungen Mann umarmen, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Erst als Isabella meine Hand drückte und mich in die Buchhandlung führte, erkannte ich Semperes Sohn. Barceló empfing mich mit einem niedergeschlagenen Lächeln. Der Buchhändlersohn weinte in seinen Armen, und ich brachte nicht den Mut auf, zu ihm zu treten und ihn zu begrüßen. Isabella legte ihm die Hand auf die Schulter.
    Sempere junior wandte sich um, sodass ich sein verhärmtes Gesicht sehen konnte. Sie führte ihn zu einem Stuhl, auf den er sich wie eine ausgediente Puppe fallen ließ. Isabella kniete sich neben ihn und umarmte ihn. Nie war ich auf jemanden so stolz gewesen wie in diesem Augenblick auf Isabella, die nicht mehr wie ein junges Mädchen wirkte, sondern wie eine Frau, die stärker und weiser war als alle Übrigen.
    Barceló trat zu mir und reichte mir seine zitternde Hand.
    »Es ist vor zwei Stunden geschehen«, sagte er heiser. »Er war einen Moment allein im Laden, und als sein Sohn zurückkam … Er soll sich mit jemandem gestritten haben … Ich weiß auch nicht. Der Doktor sagt, es sei das Herz gewesen.«
    »Wo ist er?«, fragte ich mit Mühe.
    Barceló deutete mit dem Kopf auf die Tür zum Hinterzimmer. Vor dem Eintreten atmete ich tief durch und

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