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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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zeit seines Lebens mit dem Vater gelebt hatte. Barceló und ich leisteten dem alten Sempere Gesellschaft, während die Besucher zum Abschied an ihm vorbeizogen. Diejenigen, die ihm sehr nahegestanden hatten, blieben. Die Totenwache dauerte die ganze Nacht. Barceló harrte bis fünf Uhr morgens aus und ich selbst so lange, bis Isabella in der Morgendämmerung herunterkam und mich nach Hause schickte, wenn auch nur, um mich umzuziehen und etwas zurechtzumachen.
    Ich schaute den armen Sempere an und lächelte. Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn nie wieder hinter dem Ladentisch antreffen würde, wenn ich in diesen Laden käme. Ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch in der Buchhandlung, als ich noch ein kleiner Junge war und der Buchhändler mir groß und kräftig vorkam, unverwüstlich. Der weiseste Mann der Welt.
    »Bitte gehen Sie nach Hause«, flüsterte Isabella.
    »Wozu?«
    »Bitte …«
    Sie begleitete mich auf die Straße hinaus und umarmte mich.
    »Ich weiß, wie lieb Sie ihn hatten und was er Ihnen bedeutet hat«, sagte sie.
    Das weiß niemand, dachte ich. Niemand. Aber ich nickte, und nachdem ich sie auf die Wange geküsst hatte, machte ich mich ohne Ziel auf den Weg, durch die Straßen, die mir leerer vorkamen denn je, und im Glauben, wenn ich nicht stehen bliebe, wenn ich immer weiterginge, würde ich nicht merken, dass die Welt, wie ich sie kannte, nicht mehr existierte.
     

 2
    Die Menschenmenge hatte sich vor dem Friedhofstor versammelt und wartete auf das Eintreffen des Fuhrwerks. Niemand traute sich zu sprechen. In der Ferne waren das Tosen des Meeres und das Rattern eines Güterzuges zu hören, der unterwegs zu den Fabriken hinter dem Gottesacker war. Es war kalt, und Schneeflocken tanzten im Wind. Kurz nach drei Uhr nachmittags bog der von schwarzen Pferden gezogene Wagen zwischen Zypressen und alten Lagerhäusern in die Avenida Icaria ein. Semperes Sohn und Isabella fuhren mit. Sechs Kollegen der Barceloneser Buchhändlerzunft, unter ihnen Don Gustavo, hievten sich den Sarg auf die Schultern und trugen ihn auf den Friedhof. Ein schweigsamer Menschenzug folgte ihnen zwischen Gräbern und Familiengrüften hindurch unter einer tiefen, wie eine Quecksilberfläche schillernden Wolkendecke. Jemand fand, Semperes Sohn sei in einer einzigen Nacht um fünfzehn Jahre gealtert. Man nannte ihn Señor Sempere – jetzt war er für die Buchhandlung verantwortlich, und über vier Generationen hinweg hatte dieser verzauberte Basar in der Calle Santa Ana nie einen anderen Namen getragen und war immer von einem Señor Sempere geleitet worden. Isabella führte ihn am Arm, und ich hatte den Eindruck, ohne sie wäre er zusammengebrochen wie eine Marionette ohne Fäden.
    Der Pfarrer der Kirche Santa Ana, ein Veteran im Alter des Verstorbenen, wartete vor dem offenen Grab und einer schmucklosen Marmorplatte, die davor lag. Die sechs Buchhändler setzten den Sarg vor der Grube ab. Barceló hatte mich erblickt und nickte mir zu. Ob aus Feigheit oder Respekt – ich zog es vor, im Hintergrund zu bleiben. Von dort aus konnte ich in etwa dreißig Meter Entfernung das Grab meines Vaters sehen. Sowie sich die Gemeinde um den Sarg herum versammelt hatte, schaute der Pfarrer mit einem Lächeln auf.
    »Señor Sempere und ich waren fast vierzig Jahre lang befreundet, und in dieser ganzen Zeit haben wir nur ein einziges Mal über Gott und die Mysterien des Lebens gesprochen. Kaum einer weiß, dass der liebe Sempere keine Kirche mehr betreten hatte seit dem Tode seiner Gattin Diana, an deren Seite wir ihn heute betten wollen, auf dass sie für immer nebeneinander ruhen. Vielleicht galt er aus diesem Grund als Atheist, doch er war ein Mann des Glaubens. Er glaubte an seine Freunde, an die Wahrheit und an etwas, dem er weder Namen noch Gesicht zu geben wagte – er sagte, dazu seien wir Geistliche da. Señor Sempere glaubte, dass wir alle Teil von etwas Höherem seien. Wenn wir diese Welt verließen, würden unsere Erinnerungen und Sehnsüchte nicht verloren gehen, sondern zu den Erinnerungen und Sehnsüchten derer werden, die uns nachfolgen. Er war sich nicht sicher, ob wir Gott nach unserem Vorbild geschaffen hatten oder ob Gott uns geschaffen hatte, ohne recht zu wissen, was er tat. Er glaubte, Gott – oder was immer uns hierhergebracht hat – lebe in jeder unserer Handlungen, in jedem unserer Worte und manifestiere sich in allem, was uns zu mehr als reinen Lehmfiguren macht. Señor Sempere glaubte, Gott lebe auch ein wenig

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