Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
setzte er seine gründliche Reinigungsarbeit fort, und eine Viertelstunde später ging das Schalterfenster auf. Ich stellte mich davor und lächelte den Beamten an.
»Ich dachte, sie öffnen um sieben«, sagte ich. »Das steht auf dem Schild. Was wollen Sie?« »Zwei Fahrkarten erster Klasse nach Paris für den Mittagszug.« »Heute?«
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist.«
Für die Ausfertigung der Fahrkarten benötigte er nahezu fünfzehn Minuten. Als das Meisterwerk vollendet war, warf er es lustlos vor mich hin.
»Um eins. Bahnsteig vier. Kommen Sie rechtzeitig.«
Ich zahlte und wurde, da ich mich nicht gleich zurückzog, mit einem feindselig-forschenden Blick bedacht.
»Noch was?«
Lächelnd schüttelte ich den Kopf, was er nutzte, um mir das Schalterfensterchen vor der Nase zuzuknallen.
Ich ging durch die makellos glänzende Halle auf den Ausgang zu. Der Putzer grüßte mich aus der Ferne mit einem »Bon voyage«.
Der Hauptsitz der Bank Hispano Colonial in der Calle Fontanella erinnerte an einen Tempel. Ein hoher Säulengang führte zu einer statuengesäumten Halle, in der ganz hinten eine Reihe Schalter altarförmig angeordnet waren. Zu beiden Seiten, wie Kapellen und Beichtstühle, standen Eichentische mit majestätischen Sesseln, an denen eine kleine Armee tadellos gekleideter Angestellter mit herzlichem Dauerlächeln Kunden empfing. Ich hob viertausend Francs in bar ab und nahm die Anweisungen entgegen, wie ich in der Pariser Filiale der Bank, Rue de Rennes, Ecke Boulevard Raspail, in der Nähe des von Cristina erwähnten Hotels, Mittel abheben konnte. Mit diesem kleinen Vermögen in der Tasche verabschiedete ich mich, ohne der Warnung des Bevollmächtigten Beachtung zu schenken, wie unvorsichtig es sei, mit einer solchen Menge Bargeld durch die Straßen zu gehen.
Die Sonne stieg einen Himmel hinauf, der so blau war wie die Farbe des Glücks, und eine frische Brise trug den Meeresgeruch herbei. Ich ging leichten Schrittes, als hätte ich eine ungeheure Last abgeworfen, und glaubte schon, die Stadt habe beschlossen, mich ohne Groll zu entlassen. Auf dem Paseo del Born kaufte ich für Cristina weiße Rosen mit einer roten Schleife. Im Treppenhaus nahm ich zwei Stufen auf einmal, mit einem Lächeln auf den Lippen und der Gewissheit, dass dies der erste Tag eines schon für immer verloren geglaubten Lebens war. Als ich aufschließen wollte, gab die Tür nach -sie war angelehnt.
Ich stieß sie ganz auf und trat hinein. In der Wohnung herrschte vollkommene Stille.
»Cristina?«
Ich legte die Blumen auf die Kommode und schaute ins Schlafzimmer hinein. Cristina war nicht da. Auch in der Veranda kein Zeichen von ihr. Am Fuß der Treppe zum Arbeitszimmer rief ich hinauf.
»Cristina?«
Nur das Echo meiner Stimme war zu hören. Mit einem Schulterzucken schaute ich auf die Uhr in einer der Vitrinen im Bücherregal der Veranda. Fast neun Uhr. Vermutlich war sie aus dem Haus gegangen, um irgendetwas zu besorgen, und verwöhnt von ihrem Leben in Pedralbes, wo es die Aufgabe der Bediensteten war, sich mit Türen und Schlössern herumzuschlagen, hatte sie die Tür offen gelassen. Ich legte mich in der Veranda aufs Sofa und wartete. Die reine, strahlende Wintersonne schien herein und lud dazu ein, sich von ihr liebkosen zu lassen. Ich schloss die Augen und versuchte, mir zu überlegen, was ich mitnehmen wollte. Ein halbes Leben lang war ich von all diesen Dingen umgeben gewesen, und jetzt, im Moment des Abschieds, war ich außerstande, eine knappe Liste derjenigen zusammenzustellen, die ich für unentbehrlich hielt. Ohne es recht zu merken, sank ich im warmen Sonnenlicht und mit zarten Hoffnungen in einen sanften Schlaf.
Als ich erwachte und auf die Uhr schaute, war es halb eins am Mittag. Nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Ich sprang auf und lief zum Schlafzimmer.
»Cristina?«
Diesmal suchte ich in der ganzen Wohnung, Zimmer für Zimmer, bis ich zum Arbeitszimmer gelangte. Niemand war da, aber ich glaubte einen seltsamen Geruch wahrzunehmen. Phosphor. Das Licht vom Fenster fing ein schwaches Netz blauer, in der Luft hängender Rauchfasern ein. Auf dem Fußboden des Arbeitszimmers lagen zwei heruntergebrannte Streichhölzer. Ich verspürte einen Stich der Besorgnis, kniete vor der Truhe nieder und öffnete den Deckel. Ich atmete erleichtert auf – die Mappe mit dem Manuskript war noch da. Ich wollte die Truhe schon wieder schließen, als ich sah, dass die Schleife entknotet
Weitere Kostenlose Bücher