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Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Barcelona 02 - Das Spiel des Engels

Titel: Barcelona 02 - Das Spiel des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Vielleicht war meine Zeit schon um. Aber das spielte jetzt keine große Rolle mehr.
    Inzwischen konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich schluckte drei oder vier Kodeinpillen auf einmal, steckte das Fläschchen in die Tasche und steuerte die Treppe an, nicht ganz sicher, ob ich das Schlafzimmer erreichen würde. Im Korridor angelangt, glaubte ich in dem hellen Spalt unter der Eingangstür einen Schatten zu sehen, als stünde jemand auf der anderen Seite. Ich tastete mich die Wände entlang zur Tür.
    »Wer ist da?«, fragte ich.
    Weder eine Antwort noch sonst ein Geräusch war zu hören. Ich zögerte einen Moment, dann öffnete ich und trat hinaus. Ich beugte mich vor, um die Treppe hinunterzuschauen. Die Stufen führten in einem Halbkreis abwärts und verloren sich in der Finsternis. Niemand da. Ich drehte mich wieder zur Tür um und sah, dass das kleine Licht im Treppenhaus flackerte. Drinnen schloss ich mit dem Schlüssel ab, etwas, was ich oft vergaß. Da erblickte ich einen cremefarbenen Umschlag mit gezacktem Rand. Jemand hatte ihn unter der Tür durchgeschoben. Ich bückte mich danach. Es war ein schweres, poröses Papier, versiegelt und mit meinem Namen versehen. Das Lacksiegel zeigte die Silhouette des Engels mit den ausgebreiteten Flügeln. Ich öffnete ihn.
     
    Sehr geehrter Señor Martín,
    ich werde eine gewisse Zeit in der Stadt verbringen und würde mich sehr freuen, in den Genuss Ihrer Gesellschaft zu kommen und mit Ihnen noch einmal mein Angebot zu erörtern. Ich würde es Ihnen sehr danken, wenn Sie mir, falls Sie keine anderweitigen Verpflichtungen haben, am nächsten Freitag, dem 13. dieses Monats, abends um zehn Uhr bei einem Abendessen in der kleinen Villa Gesellschaft leisten würden, die ich für meinen Aufenthalt gemietet habe. Sie befindet sich in der Calle Olot, Ecke Calle San José de la Montana, neben dem Eingang zum Park Güell. Ich hoffe und wünsche mir, dass es Ihnen möglich ist zu kommen. Ihr Freund
    Andreas Corelli
     
    Ich ließ das Billett zu Boden fallen und schleppte mich in die Veranda, wo ich mich im Halbdunkeln aufs Sofa legte. Noch eine Woche bis zu dem Rendezvous. Ich musste lächeln. Ich glaubte nicht, dass ich in sieben Tagen noch leben würde. Ich schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Das dauernde Pfeifen in meinen Ohren kam mir jetzt gellender vor denn je. Mit jedem Herzschlag flammte in meinem Kopf ein stechendes weißes Licht auf.
    Sie werden nicht einmal ans Schreiben denken können.
    Ich machte die Augen wieder auf und starrte in die blaue Finsternis der Veranda. Neben mir auf dem Tisch lag immer noch das alte Fotoalbum, das Cristina zurückgelassen hatte. Ich hatte nicht den Mut gefunden, es wegzuwerfen, oder auch nur, es anzurühren. Ich blätterte bis zu der gesuchten Aufnahme, die ich herausriss und aufmerksam betrachtete. Cristina, die als kleines Mädchen an der Hand eines Unbekannten auf dem Steg ins Meer hinausspaziert. Ich drückte das Bild an meine Brust und überließ mich der Müdigkeit. Langsam erlosch die Bitterkeit und Wut dieses Tages, dieser Jahre, und eine warme Dunkelheit voller erwartungsvoller Stimmen und Hände hüllte mich ein. Ich wünschte mir, mich in ihr zu verlieren, wie ich mir in meinem Leben noch nie etwas gewünscht hatte, aber etwas zog an mir, und ein Dolchstich von Licht und Schmerz riss mich aus diesem behaglichen Traum, der ohne Ende zu sein versprochen hatte.
    Noch nicht, flüsterte die Stimme, noch nicht.
    Dass die Tage vergingen, wusste ich, weil ich manchmal erwachte und durch die Lamellen der Fensterläden das Sonnenlicht zu sehen glaubte. Mehrmals hatte ich den Eindruck, es werde an die Tür geklopft und Stimmen riefen meinen Namen, um nach einer Weile wieder zu verstummen. Irgendwann stand ich auf, und als ich mit den Händen meinen Kopf betastete, entdeckte ich Blut auf meinen Lippen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich auf die Straße hinausging oder es nur träumte, aber ohne zu wissen, wie ich dahin gelangt war, befand ich mich auf dem Paseo del Born, wo ich zur Kathedrale Santa Maria del Mar schritt. Die Straßen unter dem Quecksilbermond waren menschenleer. Ich schaute auf und glaubte den Geist eines großen schwarzen Gewitters seine Flügel über der Stadt ausbreiten zu sehen. Ein feines weißes Licht riss den Himmel entzwei, und dichte Regentropfen fielen wie Dolche aus Glas zur Erde herab. Kurz bevor der erste Tropfen den Boden berührte, stand die Zeit still, und Hunderttausende Lichttränen

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