Barcelona 02 - Das Spiel des Engels
in Gesellschaft seines letzten, kümmerlichen Werks, das ihn ins Grab gebracht hat. In zehn Monaten oder zehn Jahren würde mich hier drin jemand finden – oder vielleicht auch nie. Ein großes Finale, der Stadt der Verdammten würdig.
Ich glaube, was mich rettete, war mein eigenes bitteres Lachen, das mir den Kopf reinfegte und mich wieder daran erinnerte, wo ich war und was ich hier suchte. Eben wollte ich vom Stuhl aufstehen, als ich ihn erblickte. Es war ein plumper, dunkler Band ohne erkennbaren Titel auf dem Rücken. Er lag am anderen Ende des Tisches, zuoberst auf einem Stapel mit vier weiteren Büchern. Ich nahm ihn in die Hand. Der Einband fühlte sich an wie Leder oder sonst eine gegerbte, dunkel gewordene Haut. Die Schrift auf dem Deckel, vermutlich mit einer Art Brandzeichen geprägt, war ausgeblichen, aber auf der vierten Seite war der Titel deutlich zu lesen.
Lux Aeterna
D. M.
Die mit den meinen übereinstimmenden Initialen waren wohl die des Autors, aber kein weiterer Hinweis in dem Buch bestätigte diese Annahme. Ich überflog mehrere Seiten und erkannte mindestens fünf verschiedene Sprachen, die sich im Text abwechselten – Spanisch, Deutsch, Latein, Französisch und Hebräisch. Ich las aufs Geratewohl einen Abschnitt, der mich an ein Gebet denken ließ, welches ich aber aus der traditionellen Liturgie nicht in Erinnerung hatte, und fragte mich, ob es sich hier wohl um eine Art Messbuch oder Sammlung von Fürbitten handelte. Der Text war durchsetzt mit Zahlen und in Abschnitte unterteilt, deren unterstrichene Einsätze auf Episoden oder thematische Unterteilungen hinzuweisen schienen. Je genauer ich es untersuchte, desto deutlicher erinnerte es mich an die Evangelien und die Katechismen meiner Schulzeit.
Ich hätte den Raum verlassen, irgendeinen anderen von den Hunderttausenden Bänden aussuchen und weggehen können, um nie wiederzukehren. Beinahe glaubte ich auch, das zu tun, als ich auf dem Rückweg durch die Tunnel und Gänge des Labyrinths merkte, dass mir das Buch noch immer in der Hand haftete wie ein Parasit. Einen Augenblick ging mir der Gedanke durch den Kopf, dieses Buch habe noch mehr den Wunsch, hier wegzukommen, als ich selbst und lenke auf irgendeine Weise meine Schritte. Nachdem ich auf einigen Umwegen zweimal am vierten Band von Le Fanus gesammelten Werken vorbeigekommen war, gelangte ich plötzlich, ohne zu wissen, wie, zu der spiralförmig absteigenden Treppe, und von da fand ich den Weg zum Ausgang des Labyrinths. Eigentlich hatte ich Isaac an der Schwelle erwartet, aber es war keine Spur von ihm zu sehen, obwohl ich das sichere Gefühl hatte, dass mich jemand aus der Dunkelheit heraus beobachtete. Das ganze Gewölbe des Friedhofs der Vergessenen Bücher war in tiefe Stille getaucht. »Isaac?«, rief ich.
Das Echo meiner Stimme verlor sich in den dunklen Ecken. Ich wartete vergeblich einige Sekunden und machte mich dann auf zum Ausgang. Das durch die Kuppel sickernde blaue Licht verlor sich allmählich, bis mich fast völlige Dunkelheit umgab. Nach einigen Schritten sah ich am Ende der Galerie ein Licht flackern und stellte fest, dass der Aufseher die Öllampe neben dem Tor hatte stehen lassen. Ich wandte mich ein letztes Mal um und spähte in die Finsternis der Galerie. Dann zog ich an dem Griff, der den Mechanismus von Stangen und Rollen in Gang setzte. Die Schlösser öffneten sich eines nach dem anderen, und die Tür gab einige Zentimeter nach. Ich drückte sie so weit auf, dass ich hindurchschlüpfen konnte, und trat ins Freie. Nach einigen Sekunden fiel sie mit tiefem Widerhall in die Schlösser.
22
Je weiter ich mich von diesem Ort entfernte, desto mehr verlor sich seine Magie, und ich spürte wieder die Übelkeit und den Schmerz. Ich fiel der Länge nach hin, zuerst auf den Ramblas und dann, als ich die Via Layetana überqueren wollte, wo mir ein Junge aufhalf und mich davor bewahrte, vor eine Straßenbahn zu geraten. Mit Mühe und Not schaffte ich es bis zu meiner Tür. Die Wohnung war den ganzen Tag verschlossen gewesen, und diese feuchtgiftige Hitze, die die Stadt jeden Tag etwas mehr erstickte, hing als dunstiges Licht darin. Ich ging ins Arbeitszimmer im Turm und riss die Fenster weit auf. Es wehte kaum eine Brise unter dem von schwarzen, langsam über Barcelona kreisenden Wolken gequälten Himmel. Ich legte das Buch auf den Schreibtisch und dachte, ich hätte noch genügend Zeit, es ausführlich zu studieren. Oder vielleicht auch nicht.
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