Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
diesem Fall stimmen mochte, dachte er, denn er, der Mann, der Armando genannt wurde, war ja nur in der unsichtbaren Welt der Armen- und Unberührbarenstadt jemand. Es gibt Zeiten und Orte, da niemand zu sein ehrenwerter ist, als jemand sein.
3
Träge zogen sich die Tage dahin. Einmal täglich suchte Armando die Baracke auf, um sich nach dem Zustand des Todkranken zu erkundigen. Das Fieber gab zaghafte Zeichen eines Rückgangs, und das Geflecht von Quetschungen, Schnitten und anderen Wunden, die seinen Körper bedeckten, schien unter den Salben langsam zu verheilen. Der Kranke schlief den größten Teil des Tages oder murmelte zwischen Schlafen und Wachen unverständliche Wörter.
»Wird er leben?«, fragte Armando manchmal.
»Das hat er noch nicht entschieden«, antwortete die Frau, die von den Jahren verwischt und von diesem Unglücklichen für seine Mutter gehalten worden war.
Die Tage kristallisierten sich in Wochen, und bald wurde klar, dass niemand käme, um sich nach dem Fremden zu erkundigen, da niemand nach etwas fragt, was er lieber nicht weiß. Normalerweise betraten die Polizei und die Guardia Civil das Somorrostro nicht. Ein stillschweigendes Gesetz umriss ganz klar, dass die Stadt und die Welt vor den Toren dieser Hüttenbevölkerung endeten, und beide Seiten waren daran interessiert, diese unsichtbare Grenze zu respektieren. Armando wusste, dass auf der anderen Seite viele Leute insgeheim oder offen beteten, eines Tages möge der Sturm die Armenstadt für immer davontragen, doch bis es so weit war, schauten alle lieber weg und drehten dem Meer und den zwischen dem Ufer und dem Fabrikendschungel des Pueblo Nuevo dahinvegetierenden Menschen den Rücken. Trotzdem hatte Armando seine Zweifel. Die Geschichte, die er hinter diesem seltsamen Gast erahnte, konnte gut und gern zu einem Bruch dieses stillschweigenden Gesetzes führen.
Nach wenigen Wochen näherten sich zwei unerfahrene junge Polizisten, beschrieben den Fremden und fragten, ob jemand einen solchen Mann gesehen habe. Tagelang war Armando danach wachsam, aber als sich niemand mehr nach Fermín erkundigte, wurde ihm klar, dass niemand diesen Mann wirklich finden wollte. Vielleicht war er gestorben und wusste es nicht einmal.
Anderthalb Monate nach seinem Eintreffen begannen die Wunden zu verheilen. Als der Mann die Augen öffnete und fragte, wo er sei, half man ihm, sich aufzurichten und eine Brühe zu schlürfen, gab ihm jedoch keine Antwort.
»Sie müssen ruhen.«
»Lebe ich?«
Niemand bestätigte oder widerlegte es ihm. Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm her die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.
Oft besuchte ihn ein Fremder. Er roch nach Tabak und Kölnischwasser, beides damals nicht sehr verbreitet. Er setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett und schaute ihn aus undurchdringlichen Augen an. Sein Haar war pechschwarz, seine Züge scharf. Wenn er merkte, dass der Genesende wach war, lächelte er ihm zu.
»Sind Sie Gott oder der Teufel?«, fragte ihn der Kranke einmal.
Der Fremde zuckte mit den Schultern und wog die Antwort ab.
»Beides ein wenig«, antwortete er schließlich.
»Ich bin im Prinzip Atheist«, teilte ihm der Patient mit. »Obwohl ich in Wirklichkeit einen starken Glauben habe.«
»Wie viele Leute. Ruhen Sie sich jetzt aus, mein Freund. Der Himmel kann warten. Und die Hölle ist zu klein für Sie.«
4
Zwischen den Besuchen des Herrn mit dem
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