Bardo - Rueckfahrkarte Leben Tod
vollständig ab und legt den nackten Oberkörper behutsam auf die Erde. Anschließend knöpft er die Jeans auf, erhebt sich und geht zum Fußende. Aufrecht stehend, lüpft er eine Wade nach der anderen, bindet die Schnürsenkel der Stiefeletten auf und zieht sie ebenso von den Füßen wie die Socken. Schuhe und Strümpfe fallen zu Boden. Tsepel packt beide Hosenbeine am Saum und zerrt ruckartig. Annes Bauch zuckt schlaff zusammen. Der dicke Stoff rutscht bis zum Spann und entgleitet ihm schließlich. Nackt schlagen die Beine auf den Boden. Tsepel beugt sich nach vorn, ergreift das Gummiband des Slips und reißt ihn nach unten. Die feine Unterwäsche rollt sich ein und widersetzt sich den Hinterbacken, fügt sich dann aber der Kraft der Fäuste. Ausgestreckt auf dem Rücken liegend, ist Anne jetzt vollkommen nackt.
Tsepel breitet das Hemd aus, legt darauf die anderen Kleidungsstücke sowie die persönlichen Sachen, die er um das Motorrad herum aufgelesen hat, verpackt das Ganze notdürftig, indem er die Ärmel verknotet, hebt das Bündel hoch und wirft es ins Feuer. Die Ärmel lösen sich voneinander. Annes Fotos gleiten in die Flammen. Auf einem davon ist die Familie versammelt. Lucies Gestalt verbrennt allmählich. Ein dichter Rauch
steigt auf. Der Wind trägt ihn bis zur Pinie. Evan hüstelt einige Augenblicke und öffnet die Augen. Vor ihm schürt der alte Mann die Glut mit Annes Kleidung. Direkt dahinter scheinen die nackten Überreste seiner Frau unter der Einwirkung der ausströmenden Wärme zu schweben. Evan errötet.
»Nein!«
Ohne sich seiner Verletzung zu erinnern, versucht er aufzustehen, fällt jedoch sofort wieder hin und schreit umso lauter. Tsepel eilt zu ihm, umklammert den Tobenden und bringt ihn zum Schweigen, indem er die Handflächen auf den weit aufgerissenen Mund presst.
»Hör auf zu schreien. Du machst ihr nur Angst.«
Den Blick fassungslos auf den Leichnam geheftet, verspürt Evan einen Brechreiz. Eine zähe, gelbliche Flüssigkeit rinnt zwischen den eng aneinanderliegenden Fingern des alten Mannes hindurch und tropft über Evans Kinn. Tsepel lockert kurz seinen Griff und steckt die mit Erbrochenem beschmutzte Hand in seine Hosentasche. Daraus zieht er ein verschlissenes Foto des Dalai Lama, das er vor Evans Augen schwenkt. Während ihm Gallenflüssigkeit aus dem Mund sickert, schluchzt Evan still vor sich hin.
In der Nacht funkelt das Himmelsgewölbe. Der alte Mann sitzt wieder am Feuer und rezitiert seine Gebete.
»Du bist nicht die Einzige, die diese Welt verlässt. So ergeht es jedem von uns. Halte keinen Wunsch, kein Verlangen nach diesem Leben zurück …«
Zu seiner Linken ist Annes Leichnam erneut mit dem Schlafsack bedeckt. Darunter ragen ihre kreideweißen, perfekt aneinandergefügten Füße hervor.
»Du kannst nicht mehr hierbleiben. Du hast keine andere Wahl als weiterzugehen, bis du deinen Weg findest.«
Evan ist ebenfalls an seinem Platz. In der Nähe der beiden Wurzeln, die ihm als Armstütze dienen, liegen in getrennten, sorgfältig aufgeschichteten Stapeln die Beutel mit gefriergetrockneter Nahrung, Audiokassetten, der Inhalt des Verbandsbeutels und einige Kleidungsstücke. Auf einem Wollgewebe thront das Foto des Dalai Lama, mit einem Kieselstein befestigt.
»Die Visionen, die du haben wirst, machen dir vielleicht Angst, doch du musst wissen, dass sie nicht wirklich existieren. Sie sind erschreckend, aber harmlos, wie ein ausgestopftes Ungeheuer.«
Reglos, bedeckt mit der Jacke, drückt Evan seinen zerrissenen Schlafsack gegen den Bauch. Starr vor sich hin blickend, lächelt er geistesabwesend.
»Deine Visionen sind das Ergebnis deiner eigenen Projektionen, deiner Einbildungen und deiner Erinnerungen. Alles, was du siehst, ist nur eine Projektion deines Geistes.«
Im Dunkeln blitzt ein Funke auf. Er wird größer, verwandelt sich in eine glitzernde Murmel, dann in eine Lichtkugel. Indem sie sich weiter ausdehnt, offenbart sie ihre Herkunft: ein ruhendes Herz. Die Kugel vergrößert sich noch mehr, lässt während des Anwachsens ihren Inhalt zum Vorschein kommen. Zentimeter um Zentimeter zeichnet sich eine Brust ab, eine Hüfte, ein Bauch, ein Nabel. Es ist der Körper einer jungen Frau. Ihre glatte Haut wirkt seidig, als sei sie mit Talkum eingepudert. Ihr Fleisch ist fest, füllig, ganz gespannt, ihre Rundungen makellos, ohne Spur, ohne Falte. Ein Kinn taucht auf, jugendlich, dann Lippen, glühend rot, zwei Wangen; ein kleines Muttermal beherrscht den
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