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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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ihnen zu nahe kommt, vollkommen leer werden. Der Ausdruck, der vielberufene Seelenspiegel, verschwindet bei einem Abstand zwischen zehn und fünfzehn Zentimetern wie durch einen Zauberspruch. Innerhalb dieser Grenze gibt es nichts. Keinen Weg und kein Versprechen. Nicht einmal die ruhige Feindseligkeit von Katzenaugen.
    Wenn wir einem anderen Menschen allzu nah kommen, bleibt nur noch diese Zellenanhäufung, diese stechende Angelegenheit. Diese Erfahrung zu machen ist natürlich bitter, und es ist nicht immer leicht, wieder den rechten Abstand zu finden. Vielleicht ist es das, was man im Laufe der Jahre lernt. Ich nehme an, Sie wissen, wovon ich rede.
    In unserem Fall war mir klar, dass sie nicht lange auf eigene Faust zurecht kommen würde, aber der Gedanke, sie einfach einmal laufen zu lassen, war schon verlockend, das muss ich zugeben.
    Es war an einem Tag im August. An einem Vormittag, warm und verheißungsvoll wie eine sonnengereifte Pflaume. Wir hatten drei Wochen Urlaub vor uns, und im nächsten Augenblick erklärte sie mir, dass sie einen Liebhaber hatte. Ich unterdrückte den Wunsch, laut loszulachen, ich erinnere mich noch daran, als wenn es gestern gewesen wäre, und ich glaube nicht, dass sie mich dabei ansah. Den ganzen Sommer über war sie in Therapie gewesen, es war noch nicht einmal ein halbes Jahr her, seit sie entlassen worden war, und es war noch viel zu früh, die Zukunft zu planen.
    Viel zu früh.
    »Soll ich das Frühstück machen?«, fragte ich.
    Sie zögerte kurz.
    »Ja, gern«, sagte sie dann, und wir sahen uns verständnisvoll an.
    »Fahren wir morgen?«
    Sie gab keine Antwort. Zeigte keine Miene, die irgendwie zu interpretieren war, und ich stand auf, ging in die Küche und bereitete das Tablett vor.
     
    In der ersten Nacht in A. träumte ich von Ewa, offensichtlich einen ziemlich erotischen Traum, denn ich wachte mit einer starken Erektion auf. Aber die legte sich bald und wurde von Kopfschmerzen und Übelkeit ersetzt. Während ich mit dem Kopf in den Händen auf der Toilette saß, versuchte ich zusammenzukriegen, wie viel Alkohol ich am vergangenen Abend in mich hineingeschüttet hatte, aber es gab da so einige Unschärfen, die nicht deutlicher werden wollten. Ich duschte lange unter dem erbärmlichen Rinnsal, den das Translators’ House anbot, und machte mich so gegen Mittag auf den Weg hinaus in die Kälte. Die Aktentasche unter den Arm geklemmt, gelang es mir, eine Straßenbahn zu erklimmen, von der ich hoffte, dass sie ungefähr in die richtige Richtung fahren würde. Das tat sie auch, wie sich herausstellte, und auf Höhe Ceintuurbaan sprang ich ab. Schlüpfte in eine Bar und erwachte bei ein paar Scheiben Brot und einer Tasse schwarzen Kaffees wieder zum Leben. Dann ging ich das noch verbleibende Stück zur Bibliothek. Der Wind, der durch die Straßen und über die offenen Kanäle fegte, war mörderisch kalt, und mir war klar, dass ich mir zumindest einen vernünftigen Schal kaufen musste, wenn ich in dieser von Kälte geschüttelten Metropole gesund bleiben wollte.
    Hinter dem Tresen befand sich im Augenblick nur eine dünne Frau in den Sechzigern, und ich wartete, bis sie einen dunkelhäutigen Herrn in Ulster und Turban bedient hatte. Nachdem seine Bücher gestempelt waren, trat ich näher und stellte mich vor. Erklärte, dass ich mit einer Übersetzungsarbeit beschäftigt sei und dass ich einen Platz bräuchte, an dem ich täglich ein paar Stunden in Ruhe und Frieden sitzen könnte.
    Sie lächelte mich entgegenkommend und etwas schüchtern an, machte sich sofort die Mühe, um den Tresen herumzukommen, und begleitete mich zu den Arbeitstischen, die jeweils zu viert in sechs Reihen hinten in der Lexikaabteilung standen. Sie fragte, ob ich gern einen Tisch für mich reserviert haben wollte – es gäbe zwar immer genügend Platz, wie sie meinte, aber wenn ich Bücher und Arbeitsmaterial deponieren oder auch nur Papiere liegen lassen wollte, dann wäre das natürlich die eleganteste Lösung.
    Ich bedankte mich und suchte mir einen Platz ganz links aus, nur wenige Meter von dem hohen, bleieingefassten Fenster entfernt, durch das man auf die Moerkerstraat und auf einen der Eingänge zum Vondelpark sehen konnte. Im Augenblick gab es, außer der Frau und mir, nur noch zwei andere Menschen im Raum, und ich ging davon aus, dass es wohl meistens so aussah. Sie nickte, wünschte mir viel Erfolg und schritt zurück zum Ausgabetresen. Ich ließ mich nieder und legte den gelben Ordner links

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