Barins Dreieck
von mir auf den Tisch. Rechts deponierte ich einen Collegeblock und vier neu gekaufte Stifte. Dann zog ich die Gummibänder ab und bereitete mich darauf vor, Germund Reins letztes Buch in Angriff zu nehmen.
Als ich die Bibliothek verließ, war es dunkel. Ich musste mehrere Stunden dort gesessen und gearbeitet haben, und trotzdem war ich nicht weiter als drei Seiten im Manuskript gekommen. Es war ein schwerer, rätselhafter Text, mit nichts zu vergleichen, was Rein früher geschrieben hatte, das konnte ich jetzt schon sehen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er dahinter steckte, hätte ich es vermutlich niemals erraten. Noch war es zu früh, Milieu oder Handlung erkennen zu können, das einzig Sichere schien zu sein, dass ein Mann mit der Bezeichnung R vorkam, in dessen Gedanken sich diese ersten Seiten abspielten, gestaltet in einer Art innerem Monolog, in dem außerdem eine Frau, M, und ein anderer Mann, G, eine gewisse Rolle zu spielen schienen. Möglicherweise ließ sich erahnen, dass sich das Ganze zu einer Art Dreiecksdrama entwickeln sollte, es gab Zeichen, die darauf hindeuteten, aber es konnte auch noch eine ganz andere Wendung nehmen, und als ich für diesen Tag einen Punkt machte, musste ich mir eingestehen, dass ich das Ganze noch nicht so recht im Griff hatte.
Allein für den ersten Absatz hatte ich bestimmt fast eine Stunde gebraucht, und als ich ihn später noch einmal durchlas (während ich im ‘de Knijp saß und aufs Essen wartete), schien es mir trotzdem, als hätte ich den Kern von Reins Text nicht getroffen. Oder den Ton, besser gesagt: Es ist natürlich der Akkord, der wichtig ist, auf dieser Grundlage können dann die einzelnen Worte und Ausdrücke mit einer gewissen Freiheit gesetzt werden, das ist eine Sache, die ich im Laufe der Zeit gelernt habe.
Die Totalität ( so fing es an ) von Rs Zeit auf der Welt wächst nicht mehr, es gibt sie noch, aber nur, ja, nur verschwindend dünn, ein Gaffen, ein Schrei nach Halt und Lob, immer dieses Lob, wie Tau, vergänglich wie Tau, inbrünstig und flackernd, und M. Wo ist M in diesen Tagen zu finden? Ihr Profil bleibt immer noch eine Weile stehen, nachdem sie den Kopf gedreht und das Zimmer verlassen hat, eine verwirrende Frau. Bleibt auch in R zurück, Bild legt sich auf Bild, Kante an Kante, alle diese Zeiten sind stets parallel zugegen, sogar das Jetzt. Er hat sie geschlagen, sicher, er hat seine Hand erhoben, aber wie ein Baum von Regen und Sturm lebt, so ist auch sie seins, der Schmerz und die Wut und das Feuer, die reinigen und heilen und zusammenfügen, und er selbst war es, R persönlich, der sie einander vorstellte, M und G, vor vielen Jahren, auch das Kante an Kante, nebeneinander, und wie der Tropfen letztendlich den Stein aushöhlt, ist es jetzt auch soweit gekommen, um das wird sich alles drehen. Als R am Morgen aufwacht, ist er verwirrt. Seit einiger Zeit scheint alles verändert zu sein.
Mein Essen wurde gebracht, und ich klappte den Spiralblock zu. Während ich aß, fühlte ich diese Leere in mir, die sich immer einstellt nach Stunden konzentrierter Arbeit. Als würden die Welt und die Umgebung nicht mehr an mich herankommen können; die Menschen, das Gemurmel und die ruhigen Bewegungen in dem gut besuchten Lokal hätten sich ebenso gut irgendwo anders befinden und abspielen können – in einem anderen Medium, zu einer anderen Zeit. Ich saß in einem taubstummen Aquarium und schaute auf eine unbegreifliche Welt hinaus.
Zwei, drei Gläser halfen da meist, und dem war auch jetzt so. Als ich erneut auf die Straße trat, war ich wieder der Alte, und ich überlegte, ob ich nicht ebenso gut ins Kino gehen könnte, statt nach Hause zum Translators’ House. Ich hatte keine große Lust, mehr als die Stunden, die ich zum Schlafen brauchte, in meinem düsteren Zimmer zu verbringen, und beschloss, die Frau in der Zimmervermittlung bereits morgen aufzusuchen, um zu hören, ob sie mir etwas anzubieten hatte.
Aber einen besonders verlockenden Film konnte ich nicht auftreiben, es war auch schon ziemlich spät, also verbrachte ich den Rest des Abends stattdessen in einem Café mit Indianermusik, während ich darüber grübelte, wie ich eigentlich das Problem Ewa in Angriff nehmen sollte.
Einfach in der Stadt herumzulaufen und zu hoffen, sie irgendwo in dem Gewühle zu entdecken, das erschien mir alles in allem ziemlich vergeblich, aber welche Handlungsmöglichkeiten mir eigentlich offen standen, das war nur schwer auszumachen. Zumindest
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