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Bartimäus 02 - Das Auge des Golem

Titel: Bartimäus 02 - Das Auge des Golem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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fast waagerecht abstand, hatte er immer den Verdacht, dass er nicht ganz so stilvoll aussah.
    Er überquerte die Regent Street und ging an den weiß getünchten Regency-Gebäuden vorbei bis zum Haymarket, wo die Straßenkehrer vor den Theatereingängen eifrig Besen und Kehrblech schwangen und junge Obstverkäufer ihre Stände aufbauten. Eine Frau trug einen Bauchladen, auf dem sich herrlich reife Orangen aus den Kolonien türmten, eine Frucht, die in London seit dem Ausbruch der Kriege in Südeuropa knapp geworden war. Im Vorbeigehen warf der Junge geschickt eine Münze in das kleine Blechgefäß, das sie um den Hals hängen hatte, pflückte sich lässig eine Orange vom Stapel und ging weiter, ohne auf ihre Dankesbezeigungen zu achten. Er hatte seinen Schritt nicht verlangsamt und der Mantel wehte immer noch eindrucksvoll hinter ihm her.
    Am Trafalgar Square hatte man kürzlich eine Reihe hoher, bunt gestreifter Masten aufgestellt. Arbeitertrupps waren damit beschäftigt, dazwischen Seile hochzuziehen. Die Seile waren dicht an dicht mit fröhlichen rot-weiß-blauen Wimpeln behängt. Der Junge blieb stehen, schälte seine Orange und sah den Männern zu.
    Ein Arbeiter, der schwitzend ein dickes Bündel Wimpel schleppte, ging an ihm vorbei.
    Der Junge sprach ihn an: »Wozu soll das hier gut sein, Mann?«
    Der Angesprochene sah sich um, erblickte den langen schwarzen Mantel des Jungen und grüßte hastig und unbeholfen. Dabei entglitt ihm ein Teil seiner Last und fiel aufs Pflaster. »Das ist für morgen, Sir«, sagte er. »Für den Gründertag. Ein landesweiter Feiertag, Sir.«
    »Ach richtig, Gladstones Geburtstag. Hab ich glatt vergessen.« Der Junge warf einen Kringel Orangenschale in den Rinnstein und schlenderte davon, der Arbeiter klaubte leise fluchend seine Wimpel zusammen.
    Weiter ging es nach Whitehall, einem Bezirk mit wuchtigen grau verputzten Gebäuden, die das Fluidum uralter Macht verbreiteten. Hier schüchterte schon die Architektur die Passanten ein: hohe Marmorsäulen, schwere Bronzetüren, aberhunderte Fenster, hinter denen zu jeder Tages-und Nachtzeit Licht brannte, Granitbüsten von Gladstone und anderen bedeutenden Persönlichkeiten, deren grimmige, zerfurchte Züge eventuellen Staatsfeinden die geballte Härte des Gesetzes androhten. Der Junge jedoch spazierte beschwingten Schrittes daran vorbei und schälte seine Orange mit der Sorglosigkeit dessen, der hier zu Hause war. Er nickte einem Polizisten zu, zeigte dem Wachmann seinen Ausweis und betrat durch ein Seitentor den Hof des Gebäudes, in dem die Abteilung für Innere Angelegenheiten untergebracht war. Im Schatten eines Walnussbaumes blieb er stehen, vertilgte den Rest seiner Orange, wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab und rückte Kragen, Manschetten und Schlips zurecht. Dann fuhr er sich ein letztes Mal durchs Haar. Gut. Er war so weit. An die Arbeit!
    Seit Lovelace’ Umsturzversuch und Nathanaels rasantem Aufstieg in die Elite waren über zwei Jahre vergangen. Inzwischen war er vierzehn und einen ganzen Kopf größer als damals, als er das Amulett von Samarkand wieder in die Obhut der überaus dankbaren Regierung gegeben hatte; er war auch etwas kräftiger geworden, wenn auch nach wie vor eher schlank, und trug das dunkle Haar nach der neuesten Mode lang und zottelig. Sein Gesicht war vom vielen Lernen schmal und blass, doch seine Augen brannten hell und leidenschaftlich, und die Art, wie er sich bewegte, verriet einen nur mühsam gebändigten Tatendrang.
    Als kluger Beobachter hatte Nathanael schon bald erkannt, dass unter berufstätigen Zauberern die äußere Erscheinung von entscheidender Bedeutung für die Position innerhalb der Hackordnung war. Über schäbige Kleidung rümpfte man die Nase, ja, sie wurde als untrügliches Zeichen für mangelnde Begabung gewertet. Dieser Gefahr wollte sich Nathanael nicht aussetzen. Von dem Gehalt, das er vom Ministerium erhielt, hatte er sich einen engen schwarzen Anzug mit Röhrenhosen und einen langen italienischen Mantel gekauft, die er beide einfach todschick fand. Dazu trug er schmale, leicht spitz zulaufende Schuhe. Zudem besaß er eine Kollektion schreiend bunter Einstecktücher, die auf seiner Brust wahre Farbfeuerwerke hervorriefen. Derart gewählt gekleidet, stolzierte er, stets mit einem Packen Akten unterm Arm, mit langen, zielstrebigen Schritten, die an einen staksenden Reiher erinnerten, durch die Wandelgänge von Whitehall.
    Seinen Geburtsnamen hielt er streng geheim.

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