Bartstoppelkuesse
verpennt in den Sinn.
Das war in den guten alten Achtzigern gewesen, wo Weihnachten noch irgendeinen Sinn hatte. Welchen nur? Mensch, war ich wirklich schon so alt, dass ich mich daran noch erinnern konnte?
Wahlen hatten damals auch noch einen Sinn. Mein Ex-Kollege und Artdirector schoss mir in den Kopf. Er meinte, ich wählte doch nur SPD, weil meine Eltern und Großeltern auch schon Sozialdemokraten waren. Über das Programm würde ich mir doch gar keine Gedanken machen. Das musste ausgerechnet einer sagen, dem der „Merkel-Bob“ der Bundeskanzlerin gefällt.
Ich dagegen war aufgewachsen mit einem Opa, der im Ohrensessel den Spiegel las und dabei die Füße auf einem kleinen Fußschemelchen positionierte. Dadurch wurde der Fluss nicht unterbrochen, wenn er das Sturmgeschütz der Demokratie auf seinem Schoß liegen hatte. Augstein saugte ich sozusagen anstelle von Bob aus der Sesamestreet im Generationenverbund auf.
Es gab für mich nichts Größeres a ls das Recht auf freie Meinungsäußerung. Deswegen riss ich überall lauthals frech und respektlos die Klappe auf und redete darüber, was Sache war. Das erste, was ich mit der Partei in Verbindung bringen konnte, war die Farbe Rot.
Deswegen hatte ich damals auch so gerne rote Klamotten getragen, ’Jute statt Plastik’ - Sack lässig über der Schulter drapiert. Das obligatorische Palästinensertuch war noch weit entfernt vom Vermummungsverbot gewesen.
Nichts konnte mich in meiner Wahlentscheidung beirren, weder konservativ-liberale Bundesregierungen in den 80igern noch andere Irrungen und Wirrungen, kein Fick, auch nicht die Deutsche Einheit. In diesem Moment kam ich an einem Laden mit Weihnachtsengeln vorbei und mir fiel wieder die legendäre Bezeichnung Jahresendfigur mit Flügeln aus der ehemaligen DDR ein.
Ja, morgen war Weihnachten!
Heiligabendüberraschung
Schummrige Weihnachtsbeleuchtung, Glühweinduft in der Luft, Drehorgelgedudel vom Kiez und überall wimmelte es von Menschen. Heute war Heilig Abend!
Ich war schon ganz schön aufgeregt. Dem X-Man hatte ich einen Brief geschrieben. Ob wohl etwas von dem Aufgeschriebenen dabei sein würde? Ich hatte nur ganze fünf Minuten gebraucht, um meinen Wunschzettel zu verfassen: Frieden für die Welt, ein Sonderposten Prosecco, dass meine Freundin Jana es aus Berlin noch hierher schaffte, dass mein Nachbar mit dem Goldkettchen auf der Brust sein Liebchen raus schmiss und sich für mich entschied. Ich war ja ein bisschen spät dran gewesen mit wünschen!
Selbst gemachte Frikadellen und Kartoffelsalat mit Ei und Gurke im Hartplastikbecher vom Edeka warteten auf die Vernichtung.
Am Eingang des Geschäftes hatte ein Rentier mit roter Nase und goldenem Schlitten gestanden. Ich glaube, es hieß Rudolph.
Eigentlich wäre ich dieser abscheulichen Massenpsychose lieber ausgewichen, aber ich hatte nach Erwin so eine sentimentale Phase! Vormittags waren tatsächlich auch zwei Stücke Weihnachtspost in meinem ansonsten gähnend leeren Briefkasten gelandet. Eine Karte war von Anton und seiner Speditionskauffrau und kam von den Weihnachtsinseln. Wie geschmackvoll! Sie teilten mir freudestrahlend von ihrem bevorstehenden Nachwuchs mit.
Ein Brief war von Tom. Ich dachte erst, dass unser unterbelichteter Postbote mal wieder den Briefkasten verwechselt hatte, als ich las: „Hallo Scarlett, ich wünsche dir schöne Weihnachten. Habe oft an dich gedacht. Wie geht es dir? Ich bin am 5.1. in Hamburg, geschäftlich. Ich würde dich gerne wieder sehen, ma Petite. Dein Tom.“ Punkt.
Ein Bildchen war dabei. Von ihm.
Ich starrte auf den Inhalt der Klappkarte. Eine von denen, die man bei Aldi für 0,99 Cent bekommt, war es nicht. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, wurden größer, dann wieder kleiner. Dann sah ich auf sein Bild.
Er hatte nach wie vor dunkle Haare, an manchen Stellen leicht ergraut. Neue Augengläser mit einem zarten, seriösen Silberrand. Schon damals hatte er Wert auf ein edles Brillendesign gelegt, weil es sein Gesicht und insbesondere seine dunklen Augen betonte.
Sein Lieblingssatz war immer gewesen: „Augen sind der Spiegel der Seele!“
Ich hatte erleben müssen, dass er gar keine besaß.
Seine rechte Augenbraue hatte immer noch diesen leichten Aufwärtsschwung. Eine kleine Bewegung von ihr hatte ausgereicht, um mich in Ekstase zu versetzen. Die wirklich gut aussehenden Frauen waren aus wundersamen Gründen immer in seiner Nähe gewesen. Ich glaube, einer dieser Gründe war das
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